Warnung vor Schulstrukturexperimenten
31. März 2011
31.03.2011 / 1811 — 03–11
Philologenverband Baden-Württemberg (PhV BW) zum Regierungswechsel in Baden-Württemberg und zum Beginn der Koalitionsverhandlungen:
Gratulation an die Grünen und die SPD zum Wahlerfolg
- Angemahnte Verbesserungen bei der Lehrerversorgung unverzüglich umsetzen
- Warnung vor Schulstrukturexperimenten
“Wir gratulieren den Wahlsiegern zu ihrem Erfolg und begrüßen die Ankündigung eines dialogorientierten Regierungsstils. Als Schulpraktiker sind wir gerne bereit, unsere Erfahrungen einzubringen”, so Bernd Saur, Landesvorsitzender des Philologenverbands Baden-Württemberg, zum bevorstehenden Regierungswechsel.
Die künftigen Regierungsparteien haben in der Vergangenheit immer wieder zu Recht die unzureichende Lehrerversorgung beklagt. Angesichts eines immensen Überstundenvolumens (über 800 Deputate an den Gymnasien), fortgesetzten Unterrichtsausfalls und ständig steigender Belastungen der Lehrkräfte können die neuen Regierungsparteien bereits für das kommende Schuljahr zeigen, dass ihre Kritik an der bisherigen Einstellungspolitik ernst gemeint war und sie nunmehr den Worten Taten folgen lassen. Aufgrund eines inzwischen im gymnasialen Bereich zu verzeichnenden Bewerberüberhangs (1.750 Referendarinnen und Referendare bewerben sich für den Schuldienst) steht einer Umsetzung der politischen Zielsetzung nichts im Wege. Damit sie nicht während der Sommerferien arbeitslos sind und um zu verhindern, dass sie in andere Bundesländer abwandern, sollte die Einstellung der Lehramtsanwärter — wie vom PhV seit Jahren gefordert — zum 1. August erfolgen.
Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass das Vorhaben der Vorgängerregierung, den Klassenteiler bis zum Jahre 2014 Schritt für Schritt weiter zu senken, fortgeführt wird. Zum kommenden Schuljahr wird er von 31 auf 30 gesenkt werden (zur Erinnerung: er lag ursprünglich bei 33).
Wer den Unterrichtsausfall an Schularten mit Fächerprinzip beseitigen möchte, weiß, dass dies mit einer Minimallehrerversorgung und vereinzelten Flankierungsmaßnahmen nicht zu realisieren ist. Inzwischen ist allen klar, dass nur eine 110 prozentige Lehrerversorgung jeder einzelnen Schule die nötigen Spielräume vor Ort schafft, übrigens auch und gerade für Maßnahmen zur individuellen Förderung.
Wer das Innenleben eines Gymnasiums kennt — und davon gehen wir beim designierten Ministerpräsidenten als einem gelernten Gymnasiallehrer aus — der weiß, dass die Arbeitsbelastung in den vergangenen Jahren — nicht zuletzt auch durch die Einführung von G8 — immens gestiegen ist. Wer der Meinung ist, dass Schule auch etwas mit Lehrern zu tun hat und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen deren Be- bzw. Überlastung und der Qualität von Schule, der kann sich der Notwendigkeit nicht verschließen, dass eine Senkung der Deputatsverpflichtung nach dem Doppelabitur, also zum Schuljahr 2012/13 dringend geboten ist. Die “negative Spezialbehandlung” unserer Gymnasien durch eine zweimalige Erhöhung der Deputatsverpflichtung (1997 von 23 auf 24 Wochenstunden und sodann 2003 auf 25) ist bis heute nicht verdaut, weil sie an der Realität vorbeigeht, indem sie die gymnasialspezifisch höheren Anforderungen völlig missachtet. Aufgrund dauerhafter Überlastung und wegen des durch G8 entstandenen höheren Zeitdrucks auch für die Schüler ist in der Tat ein Qualitätsverlust zu befürchten, den wir uns nicht zuletzt mit Blick auf die Studierfähigkeit nicht leisten können.
Angesichts der Verlängerung der Lebensarbeitszeit und enorm gestiegener Belastungen fordern wir eine massive Stärkung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes u.a. durch eine deutliche Verbesserung der Altersermäßigung sowie durch Einführung von Altersteilzeit für alle Lehrkräfte.
Hamburg hat gezeigt, dass jede Politik zum Scheitern verurteilt ist, die versucht, das Gymnasium als das “Flaggschiff der deutschen Bildungslandschaft” beschneiden zu wollen. Alle vorliegenden Untersuchungen, zuletzt das letzte Woche publizierte Bildungsgutachten des Aktionsrats Bildung, zeigen eindeutig, dass “längeres gemeinsames Lernen” weder den Lernerfolg der Kinder noch die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg verbessert. So erklärten die Bildungsforscher des Aktionsrats, dass alle bisherigen Versuche mit einer sechsjährigen Grundschule fruchtlos gewesen seien. Bemerkenswert ist übrigens, dass für die Verfechter einer solchen Schulpolitik “Bildungserfolg” gleichbedeutend zu sein scheint mit Gymnasium und Abitur. Alle Mitbürger, die andere Abschlüsse erworben haben, werden demnach offensichtlich als “Bildungsverlierer” betrachtet. Dies entspricht nicht unserer Sicht der Dinge!
Klar ist, dass die Verlängerung der Grundschule oder gar eine 10-jährige Gemeinschaftsschule zu einer massiven Gründung von teuren Privatschulen führen würde, deren Besuch vom Geldbeutel der Eltern abhinge, während der Besuch unserer staatlichen Schulen inklusive des Gymnasiums selbstverständlich kostenfrei und damit unabhängig vom Geldbeutel der Eltern ist. Diese unverrückbare Tatsache sollte allen klar sein, die heute die Koalitionsverhandlungen aufnehmen.
Die Weiterentwicklung der Qualität des Unterrichts und die Verbesserung der angesprochenen Rahmenbedingungen sollten im Fokus der politischen Bemühungen der kommenden Legislaturperiode stehen, nicht aufgewärmte Strukturdebatten des letzten Jahrhunderts.
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Bild des PhV BW-Vorsitzenden Bernd Saur