Ein Hochamt für die Gemeinschaftskunde

10. Dezember 2023

Ein Beitrag zum The­ma “DenkSCHULE”; Text von Clau­dia Grimm, Ref­er­entin für Gle­ich­stel­lung und Gle­ich­berech­ti­gung für den Lan­desvor­stand des PhV BW

Auf der Festver­anstal­tung im Land­tag anlässlich des 70jährigen Jubiläums unser­er Lan­desver­fas­sung wech­sel­ten sich Ver­fas­sungsro­man­tik und kri­tis­che Würdi­gung ab. Ger­ade Art. 21 (2), im Wort­laut: „In allen Schulen ist Gemein­schaft­skunde ein ordentlich­es Lehrfach.“, führte zu Verzück­ung. Aus Sicht ein­er Gemein­schaft­skun­delehrerin ist das dur­chaus ver­wun­der­lich. Kein Fach ist der­art mar­gin­al­isiert wie Gemein­schaft­skunde – trotz Ver­fas­sungsrang.

Die Land­tagspräsi­dentin hat­te Vertreterin­nen und Vertreter aus dem Volk in den Land­tag geladen. Neben den üblichen Verdächti­gen fan­den sich auch einige Schü­lerin­nen und Schüler ein. Das Volk sei durch die Ver­fas­sungs­ge­bung kon­sti­tu­iert wor­den, so erfahren alle ein­gangs. Iden­tität durch Ver­schriftlichung, der Gesellschaftsver­trag lässt grüßen.

Aber wie gut ken­nt das Volk sich eigentlich? Oder anders gefragt: Warum liegt bei der Festver­anstal­tung die Lan­desver­fas­sung auf jedem Platz, wenn sie doch ein Teil von uns ist? Bei einem Video-Ein­spiel­er soll dann auch deut­lich wer­den, wie wenig die Men­schen in Baden-Würt­tem­berg über ihre Ver­fas­sung wis­sen – und wie stolz sie gle­ichzeit­ig darauf sind, also auf die Ver­fas­sung. Der Fes­tred­ner, His­torik­er an der Uni­ver­sität Mannheim, betont die Qual­ität der aktuellen Lan­desver­fas­sung und ihrer Vorgänger. Ins­beson­dere die Ver­fas­sung von Würt­tem­berg-Baden von 1946 (!) wird als Vor­läufer auch des Grundge­set­zes gelobt. Eine föderale Ord­nung als Reak­tion auf die Gle­ich­schal­tung durch die Nation­al­sozial­is­ten und als Ver­such, eine neue Ori­en­tierung zu geben, werde heute nicht genug geschätzt. Zusam­menge­fasst: Der Föder­al­is­mus könne mehr als man ihm zutraue.

Ver­fas­sun­gen müssten aber immer als Kinder ihrer Zeit ver­standen wer­den. Die religiöse Per­spek­tive und der entsprechende Duk­tus sei ver­mut­lich eine Reak­tion auf den Wertev­er­lust in den Jahren des Nation­al­sozial­is­mus. Und: Vieles sei auch auf die Het­ero­gen­ität der Ver­fas­sungs­ge­ber zurück­zuführen. Täter und Geg­n­er des Regimes, Mitläufer und Opfer, alle fan­den sich in den Gremien plöt­zlich an einem Tisch wieder. Weit­ere zen­trale Kon­flik­tlin­ien ver­liefen vor allem zwis­chen den Kon­fes­sio­nen. Zudem verän­derten Heimatver­triebene und Geflo­hene in großer Zahl alteinge­sessene Struk­turen. „Heimat“ als „unveräußer­lich­es Men­schen­recht“ (Art. 2 (2)) fand den Einzug in die Ver­fas­sung.

Her­vorge­hoben wer­den erwartungs­gemäß die gestärk­ten direk­t­demokratis­chen Ele­mente. Wie schw­er sich aber einige Parteien tun, dem Volk dann auch wirk­lich zuzuhören und Gesagtes ernst zu nehmen, hat­te bei ein­er Festver­anstal­tung im Land­tag keinen Raum. Auch zur ambiva­len­ten Sicht auf den Bil­dungs­föder­al­is­mus sowie der KMK-Fix­ierung, wenn einem sel­ber nichts ein­fällt, war nichts zu hören. Oder: Wie genau inter­pretieren wir in Baden-Würt­tem­berg heute gle­ich­w­er­tige Lebensver­hält­nisse? Das alles wäre eine Diskus­sion wert gewe­sen.

Stattdessen erfahren einzelne Artikel und die Wort­wahl größere Aufmerk­samkeit. Fordert die Lan­desver­fas­sung gar einen Gottesstaat? Das hat­te die Grüne Jugend vor rund zehn Jahren laut­stark befürchtet. Soll­ten in zukün­fti­gen Ver­fas­sungsän­derun­gen die religiösen Bezüge gestrichen wer­den? Da scheint es aktuell wohl keine Bestre­bun­gen und vielle­icht auch (noch) keine Mehrheit­en zu geben.

Neue Aus­rich­tun­gen der Lan­desver­fas­sung, wie die Wahrung der natür­lichen Lebens­grund­la­gen und die Absenkung des aktiv­en Wahlal­ters auf 16 Jahre, wer­den als qual­i­ta­tive Weit­er­en­twick­lun­gen der zumin­d­est sprach­lich in die Jahre gekomme­nen Ver­fas­sung gese­hen. Schulen hät­ten eine große Ver­ant­wor­tung, Schü­lerin­nen und Schüler zu mündi­gen Bürg­erin­nen und Bürg­ern zu erziehen. Da tre­ffe es sich ja gut, dass Gemein­schaft­skunde „ein ordentlich­es Lehrfach“ sei, also in Baden-Würt­tem­berg Ver­fas­sungsrang habe.

In ver­schiede­nen Beiträ­gen wird deut­lich: Ver­fas­sungsrecht und Ver­fas­sungswirk­lichkeit fall­en bei der Lan­desver­fas­sung nicht immer zusam­men.

Wie sieht denn hier die Ver­fas­sungswirk­lichkeit aus? Schü­lerin­nen und Schüler haben in der Mit­tel­stufe des Gym­na­si­ums ins­ge­samt 4 Wochen­stun­den Gemein­schaft­skunde. Dort soll neben dem poli­tis­chen Sys­tem Deutsch­lands (Kom­munen, Land, Bund), die EU, Recht und Recht­sor­d­nung der BRD, ein biss­chen Sozi­olo­gie und ein biss­chen Frieden sowie natür­lich das ganze Paket an Kom­pe­ten­zen unter­richtet wer­den. Wahlrecht ab 16 bedeutet the­o­retisch, die Schü­lerin­nen und Schüler befind­en sich bei ihrer ersten Wahl irgend­wo zwis­chen Klasse 9 und J2. Je nach­dem, wie die ein­stündi­gen Jahre an den Schulen umge­set­zt wer­den, kann es sein, dass bes­timmte Klassen(stufen) während eines Wahlkampfes oder ein­er Wahl gar keinen Gemein­schaft­skun­de­un­ter­richt haben. Blöd, oder?

Aber auch da hil­ft der Blick in die Lan­desver­fas­sung weit­er: „In allen Schulen wal­tet der Geist der Duld­samkeit und der sozialen Ethik.“ (Art. 17 (1)). Jet­zt kann man Duld­samkeit mit Tol­er­anz kon­notieren, was der Kon­text ver­muten zulässt. Aber es beschle­icht einen den­noch der Gedanke, die Ver­fas­sungs­ge­ber hät­ten das bil­dungspoli­tis­che Trauer­spiel der ver­gan­genen Jahre voraus­geah­nt und qua­si eine Durch­hal­tepa­role in die Ver­fas­sung geschrieben… Erdulden müssen alle am Schulleben Beteiligten reich­lich. Dies soll kein Plä­doy­er für eine dauer­hafte Com­fort-Zone sein. Aber sehen­den Auges die Schule auf Sand zu bauen oder sie in den Sand zu set­zen, kann nicht im Sinne der Ver­ant­wor­tung für die kün­fti­gen Gen­er­a­tio­nen sein. Der mutwillig mar­gin­al­isierte Gemein­schaft­skun­de­un­ter­richt ist hier nur ein Beispiel von vie­len. Gemein­schaft­skunde aber sogle­ich als die Wun­der­waffe gegen neue und alte Ver­fas­sungs­feinde anzupreisen, wenn man die notwendi­gen Rah­menbe­din­gun­gen nicht im Ansatz schafft? Das hat wed­er mit Ver­fas­sung noch mit Wirk­lichkeit zu tun!

Hof­fen wir mal, dass mögliche Lösungsan­sätze nicht im „poli­tis­che-Bil­dung-fer­nen“ benach­barten Freis­taat abgekupfert wer­den. Neben ein­er Leit­per­spek­tive Demokratiebil­dung brauchen wir sich­er nicht auch noch eine Ver­fas­sungsvier­tel­stunde. Son­dern, liebe Volksvertreter und Regieren­den, macht endlich, was in der Ver­fas­sung ste­ht: Gemein­schaft­skunde muss ein ordentlich­es Lehrfach wer­den! In G8 geht das nicht? Mehr als 100 000 aus dem Volk hät­ten da einen Vorschlag!

Ein Beitrag zum The­ma “DenkSCHULE”, Text von Clau­dia Grimm, Ref­er­entin für Gle­ich­stel­lung und Gle­ich­berech­ti­gung für den Lan­desvor­stand des PhV BW

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