Pressemitteilung des PhV BW zum Beginn des Schuljahres 2022/2023: Mängel, Unsicherheiten und offene Fragen

8. September 2022

Zum Schul­jahres­be­ginn in Baden-Würt­tem­berg: Viele Män­gel, Unsicher­heit­en und offene Fra­gen, aber wenige Antworten – es sind drin­gend langfristige Konzepte nötig!

Der Lan­desvor­sitzende des Philolo­gen­ver­bands Baden-Würt­tem­berg (PhV BW), Ralf Scholl, bew­ertet die angekündigten 500 zusät­zlichen Lehrerstellen als drin­gend notwendi­gen ersten Schritt. Min­destens 2000 Stellen wären jedoch nötig gewe­sen: Allein für die Beschu­lung der 18.000 bis 30.000 ukrainis­chen Kinder und Jugendlichen (über die tat­säch­liche Zahl wird es erst nach der ersten Schul­woche Klarheit geben) sind 1200 bis 2000 zusät­zliche Stellen nötig: Dies entspricht 1 Lehrer pro 15 Schüler. Zum Ver­gle­ich: Es gibt derzeit rund 100.000 Lehrerstellen für 1,5 Mil­lio­nen Schüler in Baden-Würt­tem­berg.

Die Lehrerver­sorgung in allen Schu­larten hat sich gegenüber dem let­zten Schul­jahr noch ein­mal mas­siv ver­schlechtert. Sämtliche Reser­ven sind bere­its zum Schul­jahres­be­ginn aktiviert. Die Lück­en kon­nten nicht alle geschlossen wer­den, die Vertre­tungslis­ten sind weit­ge­hend leer. Die meis­ten Lehrkräfte kom­men aus den Som­mer­fe­rien (vielfach nach über­standen­er Coro­na-Infek­tion) nur halb erholt an die Schulen zurück.

Vor uns liegt ein heißer Coro­na-Herb­st bzw. ‑Win­ter: Ger­ade, weil Coro­na jet­zt als „endemisch“ betra­chtet wird (wie die Grippe), ist zu befürcht­en, dass es eine oder gar mehrere Coro­na-Wellen mit sehr hohen Kranken­stän­den geben wird. Coro­na ist ja min­destens 10-mal ansteck­ender als die Grippe!

Da es keine Vertre­tungskräfte gibt, wird dies zu mas­siv­en Unter­richt­saus­fällen führen. Die Schulen wur­den in kein­er Weise auf das vor­bere­it­et, was im Herbst/Winter vor ihnen liegt! Die „Lüf­tungsstrate­gie“ (jew­eils nach 20 Minuten für 5 Minuten Stoßlüften) ist angesichts der geplanten Einsparun­gen beim Heizen ein schlechter Witz.

„Dass das Kul­tus­min­is­teri­um (KM) auf neue Entwick­lun­gen (Coro­na, Beschu­lung ukrainis­ch­er Kinder und Jugendlich­er, Energieprei­s­ex­plo­sion) jew­eils immer erst mit mehrmonatiger Verzögerung reagiert, ist wirk­lich nicht hil­fre­ich“, kri­tisiert Ralf Scholl.

Die Coro­na-Lern­lück­en sind noch nicht geschlossen, wie die vorgestern veröf­fentlichte Studie des Wis­senschaft­szen­trums für Sozial­forschung und viele Rück­mel­dun­gen von Lehrkräften bele­gen. Dadurch hat die Het­ero­gen­ität in den Klassen erhe­blich zugenom­men.

Das The­ma der Som­mer­fe­rien: Die Nicht-Bezahlung langfristig befris­tet beschäftigter Lehrkräfte in den Som­mer­fe­rien

Das Kul­tus­min­is­teri­um hat zwar schon 2021 die juris­tis­che Voraus­set­zung dafür geschaf­fen, dass befris­tet beschäftigte Lehrkräfte während der Som­mer­fe­rien bezahlt wer­den kön­nen, die Regierung­sprä­si­di­en nutzen diese Option aber nicht. Sie ver­mei­den sie sog­ar aktiv! Im größten Regierung­sprä­sid­i­um, Stuttgart (mit 1/3 aller Lehrerstellen im Land), wur­den ins­ge­samt nur vier befris­tete gym­nasiale Lehrkräfte während der Ferien bezahlt – von über 200, mit denen mit­tler­weile Verträge ab dem ersten Schul­t­ag abgeschlossen wur­den.
Mit anderen Worten: Trotz der Beteuerun­gen der Kul­tus­min­is­terin hat sich an der Prax­is der unbezahlten Som­mer­fe­rien prak­tisch nichts geän­dert.

An den Gym­nasien gibt es im Kalen­der­jahr 2022 ein mas­sives Prob­lem mit den Regel­be­förderun­gen: Nach dem Kom­plett-Aus­fall des kon­ven­tionellen Beförderungsver­fahrens im Mai (Begrün­dung: keine Stellen) gibt es jet­zt für Okto­ber ins­ge­samt nur 77 Beförderungsstellen für 7700 Stu­di­en­räte am Gym­na­si­um.  Das ist ein schlechter Witz.

Die stel­lvertre­tende PhV-Lan­desvor­sitzende, Karin Fet­zn­er, richtet den Blick auf das The­ma neun­jähriges Gym­na­si­um (G9)

Der PhV hat seit einem Jahr darauf gedrängt, dass das Kul­tus­min­is­teri­um Klarheit über die Fort­set­zung des „Schul­ver­suchs G9“ schafft. Karin Fet­zn­er begrüßt, dass das KM den über­aus beliebten G9-Schulen endlich die nötige Pla­nungssicher­heit gibt und damit zumin­d­est in ihrem jew­eili­gen Einzugs­bere­ich den Kindern die Wahlmöglichkeit bietet, sich an einem all­ge­mein­bilden­den Gym­na­si­um zwis­chen einem acht- oder einem neun­jähri­gen Weg zum Abitur zu entschei­den. „Diese Chan­cen­gle­ich­heit ist lei­der nicht für alle Lan­de­skinder gegeben, denn wer zu weit weg wohnt, hat Pech gehabt – Ende mit der Chan­cen­gerechtigkeit in der Bil­dung, die die Grü­nen in ihrem Pro­gramm immer für sich reklamieren“, so die Stel­lvertre­tende PhV-Lan­desvor­sitzende.
Allerd­ings ist aus Sicht des PhV die Ver­längerung des „Schul­ver­suchs G9“ lediglich eine Ven­til­lö­sung, um die härteste Kri­tik am unbe­liebten G8 abzufed­ern.
Ger­ade nach Coro­na und im Zuge der Chan­cen­gerechtigkeit wäre eine G9-Möglichkeit an allen Gym­nasien die richtige Reak­tion auf die durch Coro­na ent­stande­nen Lück­en und die all­ge­meinen Prob­leme von G8, die auch 19 Jahre nach dem Start nicht aus­geräumt sind.

Die zweite stel­lvertre­tende PhV-Lan­desvor­sitzende, Mar­ti­na Scher­er, greift das The­ma „Wohlbefind­en und Leis­tung­sori­en­tierung“ auf: „Wohlfühlen am Gym­na­si­um — das kön­nen wir schon lange!“

Eine gute Ler­nat­mo­sphäre, eine gute Lern­beziehung und eine wertschätzende Atmo­sphäre zu schaf­fen, das ist seit Jahrzehn­ten ein Bestandteil des Lehrerberufs. „Die gym­nasiale Lehrkräfteaus­bil­dung set­zt auf Meth­o­d­en­vielfalt“, so Mar­ti­na Scher­er. „Eine per­sön­liche Beziehung zu den einzel­nen Schü­lerin­nen und Schülern wird nicht nur vom Klassen­leitung­steam intendiert, und in prak­tisch allen Fäch­ern wird viel Wert auf eigen­ständi­ges Arbeit­en gelegt,“ ergänzt Mar­ti­na Scher­er. „Zur Sicherung der Bil­dungsqual­ität darf es aber trotz­dem keine Abstriche am Niveau und an den geforderten Leis­tun­gen geben“, fordert sie.

Die Lehrkräfte dür­fen nicht weit­er aus­ge­presst wer­den bis auf den let­zten Tropfen, son­dern es müssen auch deren Arbeits­be­din­gun­gen verbessert wer­den: Die Lehrkräfte brauchen vor allem eines: Mehr Zeit, um ihre selb­stver­ständlich erlernte Meth­o­d­en­vielfalt und ihr päd­a­gogis­ches Gespür in der indi­vidu­ellen Betreu­ung der Schü­lerin­nen und Schüler ein­set­zen zu kön­nen. Auch möglichst kleine Klassen führen zu mehr Zeit für jeden einzel­nen Schüler. Klassen­lehrerstun­den in allen Stufen wären dafür eben­falls wichtig. G8 mit seinem engen Zeitko­rsett ste­ht dem aber ent­ge­gen.

Grund­schule ohne Noten

Abschließend geht Karin Fet­zn­er auf den Schul­ver­such „Grund­schule ohne Noten“ ein, an dem 37 Grund­schulen teil­nehmen, von denen aber nur deut­lich weniger als die Hälfte vorher Noten in Klasse 3 und 4 vergeben haben. 21 Schulen aus der Teil­nehmer­gruppe arbeit­en schon seit Jahren mit Ver­bal­beurteilun­gen statt Noten.

Deshalb hin­ter­fragt sie die Auswahl dieser Grund­schulen und fragt nach der adäquat­en Kon­troll­gruppe mit Noten und der Durch­führung der wis­senschaftlichen Eval­u­a­tion: Wie ern­sthaft ist bei dieser Auswahl der teil­nehmenden Schulen dieser „Ver­such“ über­haupt als solch­er gemeint, oder ist es ein­fach ein plumper Start in die Art von „Schu­len­twick­lung“, die poli­tisch so gewollt wird? Wer evaluiert hier wie? Nach welchen Kri­te­rien? Wo ist die Par­al­lel­gruppe ähn­lich­er Schulen mit Noten als Ver­gle­ich?

* * *

An den Gym­nasien des Lan­des Baden-Würt­tem­berg wer­den knapp 300.000 Schü­lerin­nen und Schüler unter­richtet. Der Philolo­gen­ver­band Baden-Würt­tem­berg e.V. (PhV BW) ver­tritt mit über 9.000 im Ver­band organ­isierten Mit­gliedern die Inter­essen der Lehrerin­nen und Lehrer an den 462 öffentlichen und pri­vat­en Gym­nasien des Lan­des.

Im gym­nasialen Bere­ich hat der Philolo­gen­ver­band BW sowohl im Haupt­per­son­al­rat beim Kul­tus­min­is­teri­um als auch in allen vier Bezirksper­son­al­räten bei den Regierung­sprä­si­di­en die Mehrheit und set­zt sich dort für die Inter­essen der ca. 26.500 Lehrkräfte an den Gym­nasien des Lan­des ein.

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