Gymnasiale Bildung mehr als Identität und Alterität?!
19. Januar 2024
Auf der Suche nach einer Auslegeordnung für postbinäre Bildung
Kennen Sie die Fernsehwerbung einer Supermarktkette? Sinngemäß zitiert: Ein Paar ist im Supermarkt beim Einkaufen, er bringt Milch. Sie: „Ist das die Günstige oder die Biomilch?“ Er – zögernd und verunsichert: „Dieeee – B E I D E S.“
Warum funktioniert der Witz? Weil wir auf Antagonismen geprägt sind. Unsere Welt erscheint als ein ENTWEDER – ODER; Reduzierung auf Dualismus und Antagonismus. Es beginnt nicht und endet nicht mit der Kalte-Kriegssozialisation als weltumspannende didaktische Reduktion: binäre Systeme als Ordnung der Welt. Wir haben Jahrzehnte hinter uns mit einem Fokus auf angloamerikanische oder klassenkämpferische Pro- und Contra-Logik. Gelebt wurde und wird dies in vielen Bereich: Kapitalismus vs. Zentralverwaltungswirtschaft, digital vs. analog, Verbrenner vs. Elektro… Aber: Wettbewerb im Zweikampf lässt oft keinen Platz für andere Ansätze, Exklusion wurde zum Prinzip. Aber so einfach ist die Welt nicht.
Wer und wie sind wir? Unsere Demokratie ein Lehrstück für Dieeee – B E I D E S: Vom Wahlsystem über unsere Gesetzgebungsprozesse bis hin zur Wirtschaftsordnung und ‑politik sind Systeme sowie Prozesse geprägt von einem SOWOHL ALS AUCH!
Was ist typisch deutsch? Das Phänomen der Gleichzeitigkeit von Lösungsansätzen. Oder wie Karl Schiller es für die soziale Marktwirtschaft formulierte: So viel Markt wir möglich, so viel Staat wie nötig! Natürlich kennen auch wir die Konkurrenz von Interessen, aber auch die Einbindung verschiedener Gruppen und Bedürfnisse. Und: Wir als Berufsverband sind mitten im deutschen Korporatismus.
Auch in unseren Gymnasien kennen wir das SOWOHL ALS AUCH: Wir lehren Naturwissenschaften und Mathematik sowohl als auch (andere) Geisteswissenschaften. Wir unterrichten unsere Schülerinnen und Schüler in mehreren Fremdsprachen sowohl als auch in musischen Fächern, im Sport oder in ethisch-religiösen Fragen. Wir nutzen Lehrervortrag wie auch individuelle Erarbeitung und gruppendynamische Prozesse. Lernen findet im Unterricht und in Projekten sowie auf Exkursionen statt. Fachlichkeit trifft auf das Ansinnen, alle da abzuholen, wo sie gerade gedanklich stehen. Aber es gibt ein gemeinsames Ziel: Die allgemeine Hochschulreife als Ticket für plurale Lebenswege.
Gleichzeitig (!) gilt: Mehrperspektivität bedeutet nicht automatisch Kontroversität. Ein Beispiel aus den letzten Jahren: Eltern, landespolitische Entscheidungsträger und Städtetag an einen Tisch zu bringen, bedeutet nicht zwangsläufig Meinungspluralismus. Damit die Schule im Dorf bleibt, sind konservative Kommunalpolitiker, bewegte Eltern und linke Landespolitiker:innen gemeinsam beim Konzept Gesamt- äh – Gemeinschaftsschule angekommen.
Es kann aber nicht die einzige bildungspolitische Frage sein, an welchem Standort Schulen erhalten werden können. Wenngleich kurze Beine – kurze Wege ein alter Grundsatz baden-württembergischer Schulpolitik ist.
Auf der Suche nach einer postbinären BildungsPolitik
Ausgangslage: Das Gymnasium ist seit Jahrzehnten eine postbinäre Zukunftswerkstatt, in der wir den schulischen Teil an Bildung und Erziehung an den uns anvertrauten und uns vertrauenden Schülerinnen und Schüler leisten. Vielfalt und Mehrperspektivität sind systemimmanent. Gerade der Ausgang von einer grundlegenden fachlichen Qualifikation von Lehrkräften und Schülerschaft bereitet den Weg für ein Erörtern, Beurteilen, Bewerten und Gestalten. Dabei gilt unter Lehrkräften wohl schon immer der Satz: Die beste Methode ist der Wechsel der Methode! Gleiches gilt für die Wahl von Sozialformen im Unterricht. Spätestens seit dem Fernlernen in der Coronahochphase wissen wir aber alle: Unterricht ist mehr als die Summe seiner Teile Inhalt, Ort und Akteure. Unterricht ist ein sozialer Prozess und Pädagogik ist und bleibt Beziehung! Eine Vereinzelung der Schülerinnen und Schüler – ob Zuhause oder in Lernateliers – beschneidet die Flügel der kindlichen Entwicklung. Der Mensch ist ein soziales Wesen und Bildung ein interaktiver Prozess.
Braucht postbinäre Bildung ein erneuertes Bildungskonzept? Sicher auch. Das heißt aber nicht, dass wir Bewährtes und Zeitloses über Bord werfen sollten. Wichtig ist, die richtigen Fragen zu stellen. Dabei kann die Frage, wie die Schule im Dorf bleiben kann, nur eine von vielen sein. Gewiss ist aber auch, dass es mehr als eine Antwort geben muss.
Eltern und Schülerschaft stimmen Jahr für Jahr für die Schulform Gymnasium. Wir sind schon lange eine „GemeinschaftsSchule“, bei uns finden sich relativ die meisten Schülerinnen und Schüler wieder. Das ist ein großes und konstantes Lob, ausgesprochen von einer bunten Gesellschaft. Ob über Generationen vor Ort oder neu zugezogen, ob bildungsfern oder traditionell bürgerliches Milieu – wir sprechen die Breite der Gesellschaft an und leisten inklusive Bildungsarbeit. Dies schafft individuelle Lebenschancen und entlässt mündige Bürgerinnen und Bürger in ihr Erwachsenenleben. Und diese brauchen wir für eine pluralistische Demokratie – wie sie das Grundgesetz postuliert.
Digitalisierung, Dekarbonisierung, demographischer Wandel sind nur drei der großen Zukunftsaufgaben, die unsere Gesellschaft herausfordern. Unsere Aufgabe ist und bleibt es, kluge Köpfe klüger zu machen, kreative Geister zu entfesseln und kommunikative Brückenbauer mit ihrem Handwerkszeug auszustatten.
Wie wir dieser Aufgabe jetzt und in Zukunft gerecht werden, beschäftigt uns in unseren Arbeitskreisen und Vertreterversammlungen, in großen und kleinen Runden. Sie haben eine Haltung, Meinung, Gedanken zu diesen Fragen? Schreiben Sie uns: denkschule@phv-bw.de
Artikel von Claudia Grimm, Referentin für Gleichstellung und Gleichberechtigung für den Landesvorstand des PhV BW
Claudia Grimm (Referentin)