Lehrkräfte brauchen Entlastung!
9. März 2020
Stuttgart, 09. März 2020
Az. 1911 / 2020-08
Die baden-württembergischen Ergebnisse der bundesweiten Studie „LaiW – Lehrerarbeit im Wandel“ sind alarmierend: Gymnasiale Lehrkräfte sind hohen beruflichen Belastungen ausgesetzt und leisten regelmäßig in großem Umfang unvergütete Mehrarbeit. Die gesundheitsgefährdeten Risikogruppen, die unter psychischen Belastungen, Burnout-Symptomen und der Entgrenzung ihrer Arbeitszeit leiden, sind viel zu groß. „Voraussetzung für eine Verbesserung der Unterrichtsqualität und des Bildungserfolgs der Schülerinnen und Schüler ist die längst überfällige Entlastung der gymnasialen Lehrkräfte“, so der Landesvorsitzende des PhV BW, Ralf Scholl.
Hierzu legt der Gymnasiallehrerverband PhV BW das folgende Sieben-Punkte-Programm vor.
1. Unterrichtsverpflichtung senken und weitere Daten erheben!
Die Arbeitszeitprotokolle der vom Deutschen Philologenverband beauftragten und von der DAK geförderten LaiW-Studie zeigen, dass gymnasiale Lehrkräfte bis auf wenige Wochen in Niedrigbelastungsphasen ständig Überstunden leisten.
Die Studien-Ergebnisse zu Belastung und Gesundheit der Lehrkräfte bestätigen diese strukturelle Überlastung.
Es muss deshalb umgehend damit begonnen werden, die Unterrichtsverpflichtung der gymnasialen Lehrkräfte schrittweise abzusenken.
Der PhV fordert vom Kultusministerium, die in der umfangreichen LaiW-Studie erhobenen Daten als Grundlage für Entlastungen zu akzeptieren und eine längst überfällige eigene Arbeitszeitstudie durchzuführen. Diese muss dann auch die Zeiträume der Schulferien und schulischen Pausen umfassen, die für Lehrkräfte keineswegs arbeitsfrei sind.
Dazu könnte eine einmalige Erhebung der Arbeitszeiten am Gymnasium über ein halbes oder ganzes Schuljahr dienen, bei deren Design Hauptpersonalrat und Verbände aufgrund ihrer einschlägigen Erfahrung mit einbezogen werden sollten.
Eine weitere Forderung des PhV BW zur Arbeitszeit ist, die im Bundesvergleich zu geringe und zu späte Altersermäßigung (die Verringerung der Unterrichtsverpflichtung für ältere Lehrkräfte) zu verbessern und den Nachteilsausgleich für schwerbehinderte Lehrkräfte weiter auszubauen.
2. Klassenteiler senken!
Ein erheblicher Teil der Tätigkeit von gymnasialen Lehrkräften besteht aus aufwändigen Korrekturarbeiten. Diese Arbeitsbelastung kann durch eine Verringerung von Klassenteiler und Kursgrößen effektiv reduziert werden.
So bekommen die Lehrkräfte mehr Zeit für eine sachgerechte Korrektur und eine gründliche Vor- und Nachbereitung des Unterrichts. Darüber hinaus ist eine geringere Klassengröße auch unabdingbare Voraussetzung für einen sinnvollen Umgang mit Heterogenität im Unterricht. Lehrkräfte brauchen Zeit, um auf den einzelnen Schüler eingehen und ihn oder sie individuell fördern zu können.
Neuere Studien zeigen eindrucksvoll den positiven Einfluss kleinerer Klassen auf den Lernerfolg der Schüler in Fächern wie Deutsch und Mathematik und auf eine Verringerung der Klassenwiederholungen. Nach den Erkenntnissen der Berliner DIW Studie von 2018 können sich kleinere Klassen deshalb gesamtwirtschaftlich sogar finanziell lohnen.
3. Mehr Anrechnungsstunden für besondere Aufgaben
Die gymnasialen Lehrkräfte schultern eine seit vielen Jahren stetig steigende Aufgabenlast. Ständig sind neue Aufgaben hinzugekommen: gestiegene Heterogenität der Schülerschaft durch die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung, Prävention, Unterstützung chronisch kranker Schüler, Inklusion, Gefährdungsbeurteilungen in Experimentalfächern, Medienbildung, Berufsorientierung, zusätzliche Demokratieerziehung, verstärkter Rechtschreibunterricht in allen Fächern usw. Aber nicht einmal die Hälfte der Lehrkräfte bekommt laut LaiW-Studie eine oder mehrere Anrechnungsstunden für besondere Aufgaben. Die entsprechenden Anrechnungen der Gymnasien wurden 2013/14 um bis zu 40 % gekürzt. Diese Kürzung muss möglichst rasch rückgängig gemacht werden.
Außerdem muss das Prinzip der Aufgabenneutralität zukünftig beachtet werden: Es dürfen den Lehrkräften keine neuen Aufgaben ohne entsprechende zusätzliche Entlastung in Form von Anrechnungsstunden zugemutet werden.
4. Mehrarbeit von Lehrern muss anerkannt und angemessen bezahlt werden!
Ausgehend von der LaiW-Studie und unter Berücksichtigung von Rüstzeiten und Ferienarbeitszeiten (vgl. die niedersächsische Mußmann-Studie von 2016) geht der PhV BW davon aus, dass gymnasiale Lehrkräfte in Baden-Württemberg — auch ferienbereinigt — massiv unbezahlte Mehrarbeit leisten. Das ist durch nichts zu rechtfertigen und muss durch eine rasche und deutliche Absenkung der wöchentlichen Unterrichtsverpflichtung korrigiert werden.
Darüber hinaus müssen Lehrkräfte wieder einen angemessenen Ausgleich für Vertretungsunterricht und Bereitschaftsstunden bekommen, am besten über echte Dienstbefreiung, z. B. eine entsprechende Reduktion der Unterrichtsverpflichtung im Folgejahr.
Das bedeutet auch, dass ein finanzieller Ausgleich von Mehrarbeit nicht mehr über den viel zu geringen und seit 20 Jahren nicht mehr erhöhten Satz der „Mehrarbeitsvergütung“ geschehen darf, sondern dass Mehrarbeit besoldungsanteilig finanziell vergütet werden muss.
Zudem dürfen einzelne ausgefallene Stunden (aufgrund der Abwesenheit von Klassen) nicht mehr wie derzeit als „Freizeitausgleich“ mit zuvor geleisteter Mehrarbeit verrechnet werden. Der Ausfall einzelner Unterrichtsstunden im schulischen Arbeitsalltag kann mangels geeigneter Lehrerarbeitsplätze weder sinnvoll für Dienstgeschäfte noch für „Freizeitausgleich“ genutzt werden, denn geeignete Arbeits‑, Erholungs- und Rückzugsmöglichkeiten stehen an den Schulen selten zur Verfügung.
Nicht zuletzt muss außerunterrichtliche Mehrarbeit (Schüleraustausche und Studienfahrten, Erstellung von Abituraufgaben, Begleitung von Schülerwettbewerben usw.) als Mehrarbeit anerkannt und finanziell oder durch ausgleichende Dienstbefreiung Berücksichtigung finden.
5. Zurück zum Kerngeschäft, dem Unterricht!
Der Unterricht in den Klassen ist mittlerweile vom Kerngeschäft zur „Neben-tätigkeit“ der gymnasialen Lehrkräfte geworden: Er umfasst laut LaiW-Studie deutlich weniger als die Hälfte der gesamten Arbeitszeit. Die Lehrkräfte brauchen wieder mehr Konzentration auf den Unterricht, denn guter Unterricht ist die effektivste individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. Der PhV BW fordert deshalb die Rückkehr zum Kerngeschäft, dem Unterricht.2
Zuallererst muss deshalb eine grundsätzliche Aufgabenkritik stattfinden: Welche Aufgaben müssen Lehrkräfte sinnvollerweise selbst wahrnehmen, welche können an Fachkräfte (Sozialarbeiter, Verwaltungsangestellte, IT-Fachkräfte, Schulpsychologen, Bibliothekare, Betriebswirte …) delegiert werden?
6. Lehrkräfte brauchen bessere Arbeitsbedingungen in den Schulen!
Die mangelhafte räumliche und sächliche Ausstattung ihrer Schule empfinden laut LaiW-Studie sehr viele Kolleginnen und Kollegen als hohen Belastungsfaktor. Es muss deshalb dringend in die Sanierung und Modernisierung der Schulgebäude investiert werden, damit übermäßige Lärmbelastung und fehlende Möglichkeiten zur Regulierung von Raumtemperatur und Lüftung der Vergangenheit angehören. Es müssen ausreichend moderne Arbeitsplätze für Lehrkräfte eingerichtet werden, damit der Arbeits- und Gesundheitsschutz endlich in den Schulen Einzug hält.
Dienstnotebooks bzw. ‑tablets für die Lehrkräfte müssen zur Selbstverständlichkeit werden. Es kann nicht angehen, dass Lehrkräfte sich die für Unterricht und Vorbereitung notwendigen Geräte selbst anschaffen müssen.
7. Lehrkräfte brauchen wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutz!
Die Ergebnisse der LaiW-Gesundheitsstudie belegen äußerst dringenden Handlungsbedarf im Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Es gibt große Risikogruppen unter den Befragten, die unter psychischen Belastungen, Burnout-Symptomen, problematischen Erholungswerten, einer übersteigerten Verausgabung und der Entgrenzung ihrer Arbeitszeit leiden.
„Wir müssen das Thema Lehrergesundheit auch im Südwesten in den Fokus der Öffentlichkeit rücken“, sagt Siegfried Euerle, Landeschef der DAK-Gesundheit für Baden-Württemberg. „Die Studie zeigt eindeutig, dass auch Lehrer dringend Unterstützung beim Gesundbleiben brauchen. Nur wenn sie selbst fit sind, können sie den Schülern einen gesunden Lebensstil vermitteln. Schule muss zu einem Ort der Gesundheit für beide werden.“
Bisher beschränkt sich der Arbeits- und Gesundheitsschutz im Schulbereich im Wesentlichen auf Angebote zur sogenannten „Verhaltensprävention“, d. h. auf Fortbildungsangebote und schulische Gesundheitstage, die ein gesundheitsförderliches Verhalten der Lehrkräfte bewirken sollen.
Die LaiW-Studie zeigt jedoch, dass Lehrkräfte ohnehin schon ein überdurchschnittlich positives Gesundheitsverhalten an den Tag legen, sodass die in der Studie festgestellten und im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung signifikant erhöhten gesundheitlichen Belastungen nur durch Verhältnisprävention, d. h. eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an den Schulen, verringert werden können.
Daraus folgt: Die Rahmenbedingungen für die schulische Arbeit müssen vom Dienstherrn, der Landesregierung, verbessert werden. Dazu sind insbesondere eine Verringerung der Unterrichtsverpflichtung, kleinere Klassen und eine Reduktion bzw. Entlastung von Zusatzaufgaben vonnöten.
Dies bestätigen auch die Vorschläge der in der LaiW-Studie Befragten für Maßnahmen zur Gesunderhaltung. Am häufigsten werden von den Lehrkräften folgende Maßnahmen gefordert (Reihenfolge nach absteigender Häufigkeit der Nennung):
• Senkung der Unterrichtsverpflichtung
• Verringerung der Klassenstärken
• Verringerung der Zusatzaufgaben
• Verbesserung der organisatorischen Rahmenbedingungen
• Zeitausgleich oder finanzieller Ausgleich für Mehraufwand
• mehr Erholungsphasen im Arbeitsalltag
• Verbesserung der schulischen Ausstattung
• Entlastung von fachfremden Aufgaben durch Spezialisten
• Unterstützung durch die Schulleitung
Es handelt sich bei all diesen Punkten um überfällige Maßnahmen und langjährige Forderungen des PhV BW, die nun endlich von der Politik planvoll mit Sofortmaßnahmen und mittelfristigen Reformen angegangen werden müssen.
„Der PhV BW erwartet von der Landesregierung, dass die Befunde der LaiW-Studie und die vom PhV BW daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen und Forderungen ernst genommen werden. Der Verband ist bereit, gemeinsam mit der Politik an einer raschen und nachhaltigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen gymnasialer Lehrkräfte zu arbeiten“, so der Landesvorsitzende des PhV BW, Ralf Scholl, abschließend.
Hinweise für die Redaktionen
Die Studie „LaiW – Lehrerarbeit im Wandel“ ist eine bundesweite, repräsentative Studie zur Lehrerarbeit, die vom Deutschen Philologenverband DPhV in Auftrag gegeben, von der DAK-Gesundheit gefördert und vom IPM (Institut für Präventivmedizin) der Universität Rostock wissenschaftlich durchgeführt wurde.
Die LaiW-Studie wurde in Form einer Befragung und eines vierwöchigen Arbeitszeitprotokolls der Lehrkräfte in Baden-Württemberg für den Zeitraum 19. Februar bis 18. März 2018 durchgeführt. Die LaiW-Studie untersuchte dabei drei Aspekte der Lehrerarbeit: Belastung, Arbeitszeit und Gesundheit der Lehrkräfte.
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An den Gymnasien des Landes Baden-Württemberg werden über 300.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Der Philologenverband Baden-Württemberg e.V. (PhV BW) vertritt mit rund 9.000 im Verband organisierten Mitgliedern die Interessen der Lehrerinnen und Lehrer an den 462 öffentlichen und privaten Gymnasien des Landes.
Im gymnasialen Bereich hat der Philologenverband BW sowohl im Hauptpersonalrat beim Kultusministerium als auch in allen vier Bezirkspersonalräten bei den Regierungspräsidien die Mehrheit und setzt sich dort für die Interessen der ca. 30.000 Lehrkräfte an den Gymnasien des Landes ein.