Mit der Einrichtung von neun- oder zehnjährigen Basisschulen würde ein Bildungschaos zementiert

14. Februar 2008

14.02.2008 / 1811 — 16–08

Zumel­dung des Philolo­gen­ver­ban­des Baden-Würt­tem­berg zur Lan­despressekon­ferenz der Grü­nen vom 14. April 2008:

“Mit der Ein­rich­tung von neun- oder zehn­jähri­gen Basiss­chulen würde ein Bil­dungschaos zemen­tiert”

  • Philolo­gen­ver­band gegen Basiss­chulen, die das Gym­na­si­um zer­schla­gen
  • PhV stellt fest: Durch Absenkung des Leis­tungsniveaus wird nicht mehr Bil­dungs­gerechtigkeit erre­icht
  • Forderung: Bessere schulis­che Rah­menbe­din­gun­gen, ein verpflich­t­en­des Vorschul­jahr und gute Durch­läs­sigkeit

“Mit der Ein­rich­tung von Basiss­chulen wer­den schulis­che Bil­dungsqual­ität und schulis­che Rah­menbe­din­gun­gen nicht verbessert, son­dern neue Bil­dungs­baustellen errichtet, die bei der Bevölkerung keine Mehrheit find­en wer­den und den Eltern­willen ignori­eren”, so der Lan­desvor­sitzende des Philolo­gen­ver­ban­des Baden-Würt­tem­berg, Karl-Heinz Wurster. Der von den Grü­nen im baden-würt­tem­ber­gis­chen Land­tag erstellte Geset­zen­twurf zur Änderung des Schulge­set­zes, der neben dem bish­eri­gen gegliederten Schul­we­sen eine weit­ere Schu­lart “Basiss­chule” vor­sieht, führt nach Auf­fas­sung des Philolo­gen­ver­ban­des zur Zer­schla­gung des Gym­na­si­ums und hat kein Konzept, wie ein solch­es inte­gra­tives Schulmod­ell in der Prax­is über­haupt funk­tion­ieren kann, zum Beispiel, wenn Schulen die Möglichkeit erhal­ten sollen, dass sie Schüler im jew­eili­gen Klassen­ver­band auf unter­schiedliche Bil­dungsab­schlüsse vor­bere­it­en kön­nen. “Und Erfahrun­gen mit inte­gra­tiv­en Schulmod­ellen gib es bere­its; nur: bish­er sind solche Schulen meist weit hin­ter den Ergeb­nis­sen der Schu­larten im gegliederten Schul­sys­tems zurück­ge­blieben”, so Wurster. Und warum sollen inte­gra­tive Schul­sys­tem zusät­zliche Mit­tel erhal­ten? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?

Gesamtschulen garantieren nicht mehr Bil­dungs­gerechtigkeit. Das wurde erst jüngst wieder mit ein­er Bil­dungsstudie in Hes­sen bestätigt. Der renom­mierte Päd­a­gogikpro­fes­sor und Erziehungswis­senschaftler Hel­mut Fend, Leit­er der Studie, äußert: “Sel­ten hat mich das Ergeb­nis mein­er Forschun­gen so über­rascht und ent­täuscht wie dies­mal: Die Gesamtschule schafft unterm Strich nicht mehr Bil­dungs­gerechtigkeit als die Schulen des gegliederten Schul­sys­tems — ent­ge­gen ihrem Anspruch und ent­ge­gen den Hoff­nun­gen viel­er Schul­re­former, denen ich mich ver­bun­den füh­le.” So zitiert DIE ZEIT Fend in einem Artikel vom 03. Jan­u­ar 2008. Der zurzeit beleg­bare Forschungs­stand ist, dass in Deutsch­land in aller Regel begabte und auch weniger begabte Schüler in gegliederten Schul­sys­te­men größere Lern­fortschritte machen als in Lern­grup­pen mit hohen Leis­tung­sun­ter­schieden: So hat beispiel­sweise die BIJU-Langzeit­studie (“Bil­dungsver­läufe und psy­chosoziale Entwick­lung im Jugen­dal­ter”) am Ende der 10. Jahrgangsstufe bei Gesamtschülern Leis­tungsrück­stände von zwei bis drei Jahren (!) gegenüber Realschülern und Gym­nasi­as­ten nachgewiesen; die Leis­tun­gen der Gesamtschüler näherten sich ten­den­ziell denen der Hauptschüler an. (Studie des Max-Planck-Insti­tuts vom 1997 zum The­ma “Bil­dungsver­läufe und psy­chosoziale Entwick­lung im Jugen­dal­ter”).

“Hin­ter der geforderten Ein­führung von Basiss­chulen ver­birgt sich langfristig die Abschaf­fung des erfol­gre­ichen mehrgliedri­gen Schul­sys­tems und des Gym­na­si­ums in Baden-Würt­tem­berg. “Dafür wer­den die Grü­nen nicht unsere Zus­tim­mung erhal­ten”, so Wurster mit dem Hin­weis auf eine repräsen­ta­tive Umfrage des München-Insti­tuts für Mark­t­forschung GmbH (MIFM) im benach­barten Bay­ern und eine bun­desweite For­sa-Umfrage.

Auf Ablehnung trifft beim Philolo­gen­ver­band auch die Vorstel­lung der Grü­nen, Kom­munen und/oder Kreise soll­ten über die Art ihrer Schul­struk­turen befind­en. “Damit wäre auf­grund der jew­eils ‘zufäl­li­gen’ Rathaus­mehrheit­en das schulpoli­tis­che Chaos vor­pro­gram­miert — mit neg­a­tiv­en Auswirkun­gen auch auf die Mobil­ität der Eltern; Schulpoli­tik durch die gewählten Regierungs­frak­tio­nen wer­den in Stuttgart gemacht, und da gibt es eine klare Mehrheit für die gegliederte Schul­struk­tur”, so Ver­band­schef Wurster.

Der Philolo­gen­ver­band Baden-Würt­tem­berg weist darauf hin, dass das baden-würt­tem­ber­gis­che gegliederte Schul­sys­tem in nationalen und inter­na­tionalen Ver­gle­ichsstu­di­en höchst erfol­gre­ich abschnei­det. Nach dem im Jahr 2005 veröf­fentlicht­en Bun­deslän­derver­gle­ich PISA‑E gehört Baden-Würt­tem­berg zu den drei erfol­gre­ich­sten Bun­deslän­dern. Bay­ern und Baden-Würt­tem­berg, also Bun­deslän­der mit klar gegliedertem Schul­we­sen und vier­jähriger Grund­schulzeit, haben beispiel­sweise bess­er abgeschnit­ten als solche mit mehr oder weniger gesamtschulähn­lichen Struk­turen. Im inter­na­tionalen Ver­gle­ich erre­icht­en in dieser Studie nur die Schüler aus Bay­ern und Baden-Würt­tem­berg in Math­e­matik Ergeb­nisse über dem inter­na­tionalen Durch­schnitt. In allen drei Test­bere­ichen lagen die baden-würt­tem­ber­gis­chen Schüler sig­nifikant über dem OECD-Durch­schnitt.

Nach Auf­fas­sung des Philolo­gen­ver­ban­des liegt die von den Grü­nen ins Feld geführte man­gel­nde Durch­läs­sigkeit nach oben nicht am mehrgliedri­gen Schul­sys­tem, son­dern an über­stürzt durchge­set­zten Refor­men, an der Ein­führung des verkürzten achtjähri­gen gym­nasialen Bil­dungs­gangs (G8) und an der nun früher ein­set­zen­den 2. Fremd­sprache. Der Über­gang von der Realschule zum Gym­na­si­um kann nach Auf­fas­sung des Philolo­gen­ver­ban­des auch ohne Basiss­chulen erle­ichtert wer­den, wenn die Gym­nasien sich zum Beispiel für den Beginn der 2. Fremd­sprache erst in Klasse 6 statt in Klasse 5 entschei­den — was übri­gens möglich ist und von der über­wiegen­den Mehrzahl der Gym­nasien so prak­tiziert wird. Außer­dem kön­nte für Wech­sler von der Realschule aufs Gym­na­si­um die Ver­set­zungsrel­e­vanz der 2. Fremd­sprache für die Klassen 6 und 7 aus­ge­set­zt wer­den. Weit­ere Opti­mierun­gen sind bei der Ver­set­zung­sor­d­nung und bei den Über­trittsregelun­gen zwis­chen den Schu­larten denkbar.

Und mit dem Ruf der Grü­nen, die Noten­verord­nung, den Klasse­nar­beit­ser­lass, die Ver­set­zung­sor­d­nung und die verpflich­t­ende Grund­schulempfehlung aufzuheben, wird die Schule auch nicht bess­er und gerechter. Welchen Stel­len­wert sollen dann noch Leis­tungs­bere­itschaft und Anstren­gung haben? Mehr Bil­dungs­gerechtigkeit wird nur über eine bessere und dif­feren­zierte Förderung von Kindern erre­icht. “Die soziale, kul­turelle und regionale Herkun­ft darf keine Rolle spie­len, deshalb sind wir für eine dif­feren­zierte Förderung nach Begabung in einem gegliederten Schul­sys­tem”, so Wurster.

Wurster: “Um Schüler indi­vidu­ell gut zu fördern und zu fordern, sind keine Basiss­chulen nötig”, son­dern gut aus­ge­bildete Lehrer, beste schulis­che Rah­menbe­din­gun­gen mit guter Raum- und Per­son­alausstat­tung, kleine Klassen und anspruchsvolle fach­liche und päd­a­gogis­che Fort­bil­dun­gen aus erster Hand.” Die Schule kann selb­st durch beste indi­vidu­elle Förderung der Kinder nicht alle Unter­schiede aus­gle­ichen. Hier­für sind beson­dere Stützsys­teme und Förder­stun­den sowie eine Ausweitung der Ganz­tagsange­bote erforder­lich, die nicht zum Null­tarif zu haben sind, die aber auch im mehrgliedri­gen Schul­sys­tem möglich sind. Der Philolo­gen­ver­band fordert u.a. ein verpflich­t­en­des Vorschul­jahr, auch um Sprachde­fizite zu beseit­i­gen. Auch die Junge Union hat jet­zt einen ähn­lichen Vorschlag unter­bre­it­et.

Für den Philolo­gen­ver­band beste­ht über­haupt kein Anlass, neun­jährige Basiss­chulen mit Pri­mar- und Sekun­darstufe I einzuricht­en. Auch eine sech­sjährige Grund­schule lehnt der Philolo­gen­ver­band ab: Das Über­gangsver­fahren würde dadurch nur unnötig hin­aus­gezögert. Ver­wiesen wird auf das aktuelle Beispiel Ham­burg, wo Eltern und Lehrer gegen die geplante Grund­schule und eine entsprechende Verkürzung der Zeit an weit­er­führen­den Schulen protestieren und von ein­er “Zer­schla­gung des Gym­na­si­ums” sprechen.

Wis­senschaftliche Stu­di­en

Der Philolo­gen­ver­band ver­weist auf aktuelle Stu­di­en, in denen nachgewiesen wird, dass län­gere gemein­same Schulzeit­en leis­tungsstärkere Schüler benachteili­gen und schwächere nicht angemessen fördern. Ver­wiesen wird in diesem Zusam­men­hang auf die jüng­ste Ver­gle­ichsstudie von Bil­dungs­forsch­er Rain­er Lehmann, der die Leis­tun­gen von fast 5.000 Berlin­er Schülern unter­sucht hat. Sein Ergeb­nis: Ins­beson­dere leis­tungsstarke Kinder ler­nen auf dem Gym­na­si­um schneller als diejeni­gen, die an den Grund­schulen bleiben.

Auch die Entwick­lungspsy­cholo­gen Prof. em. Dr. Rolf Oert­er (Uni­ver­sität München) und Prof Dr. Leo Mon­ta­da (Uni­ver­sität Tri­er) Leo Mon­ta­da haben “deut­liche Leis­tungsvorteile der Gym­nasi­as­ten aus Bun­deslän­dern mit vier­jähriger Grund­schule” wis­senschaftlich nachgewiesen (Quelle: “Entwick­lungspsy­cholo­gie”, 5. voll­ständig über­ar­beit­ete Auflage, 2002, Beltz Ver­lage).

Pro­fes­sor Mar­cus Has­sel­horn vom Insti­tut für Psy­cholo­gie der Uni­ver­sität Göt­tin­gen, Abteilung Päd­a­gogis­che Psy­cholo­gie und Entwick­lungspsy­cholo­gie, fasst das Ergeb­nis sein­er wis­senschaftlichen Forschun­gen unter der Über­schrift “Vier Jahre sind genug” zusam­men: “Entwick­lungspsy­chol­o­gisch ist eine Ver­längerung der Grund­schulzeit nicht sin­nvoll”.

Dr. Kurt A. Heller, Prof. em. an der Uni­ver­sität München, LMU Depart­ment Psy­cholo­gie (Zen­trum für Begabungs­forschung), stellt u.a. fest: “Eine Ver­schiebung der Schul­lauf­bah­nentschei­dung (…) würde für die meis­ten Schüler keine Vorteile, wohl aber erhe­bliche Nachteile mit sich brin­gen. Diese betr­e­f­fen nicht nur Leis­tungsaspek­te, son­dern tang­ieren die gesamte Per­sön­lichkeit­sen­twick­lung und damit let­ztlich auch deren Zukun­ftschan­cen?”

www.phv-bw.de

Down­loads:
Pressemit­teilung als Word-Doku­ment
Bild des PhV BW-Vor­sitzen­den Karl-Heinz Wurster

 

 

 

 

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