Pressemitteilung des Philologenverbandes Baden-Württemberg (PhV BW) zum Qualitätskonzept des Kultusministeriums

1. März 2019

 

Stuttgart, 1. März 2019
Az. 1811 / 2019-05

Die Errich­tung der bei­den neuen Insti­tu­tio­nen „Zen­trum für Schulqual­ität und Lehrerbil­dung“ (ZSL) und „Insti­tut für Bil­dungs­analy­sen Baden-Würt­tem­berg“ (IBBW) zum 1. März 2019 nimmt der Philolo­gen­ver­band Baden-Würt­tem­berg (PhV BW) zum Anlass, das Qual­ität­skonzept des Kul­tus­min­is­teri­ums (KM) für das Bil­dungssys­tem Baden-Würt­tem­bergs aus fach­lich­er Sicht kri­tisch zu beleucht­en.

„Es ist völ­lig richtig, dass die Kul­tus­min­is­terin die Qual­ität der Schul­bil­dung im Land verbessern will und dafür Geld in die Hand nimmt“, so der PhV-Vor­sitzende Ralf Scholl. Zahlre­iche Leis­tungsver­gle­iche und Bil­dungsstu­di­en in den ver­gan­genen Jahren hät­ten den Trend ras­ant nach­lassender baden-würt­tem­ber­gis­ch­er Ergeb­nisse und einen Abfall ins Mit­tel­maß der deutschen Bun­deslän­der nachgewiesen. „Hier gibt es also drin­gen­den Hand­lungs­be­darf, um Baden-Würt­tem­berg wieder nach vorn zu brin­gen.“

Allerd­ings sieht der Ver­band der Lehrerin­nen und Lehrer an Gym­nasien das Qual­ität­skonzept des Kul­tus­min­is­teri­ums kri­tisch: „Es hat zahlre­iche Defizite und Schwächen. Wir befürcht­en, dass das Ziel ein­er Qual­itätsverbesserung mit dem von Frau Dr. Eisen­mann ein­geleit­eten admin­is­tra­tiv­en Umbau in den näch­sten 10 bis 15 Jahren nicht erre­icht wer­den kann. So lange hat es gedauert, bis es in Ham­burg bzw. Schleswig-Hol­stein, wo es Vor­bilder für die neuen Insti­tute gibt, zu deut­lichen Verbesserun­gen kam. Und das Bil­dungsniveau in bei­den Län­dern liegt auch heute noch unter dem von Baden-Würt­tem­berg”, so Ralf Scholl. „Viel sin­nvoller wären aus unser­er Sicht Maß­nah­men, die den Schulen und den Lehrkräften unmit­tel­bar zu Gute kom­men wür­den – wie z.B. die Schaf­fung zusät­zlich­er Lehrerstellen, die Reduzierung der Unter­richts­dep­u­tate von Lehrkräften und die Absenkung der Klassen­teil­er.“

Konkret kri­tisiert der PhV BW fol­gende Punk­te am Qual­ität­skonzept:

  • Mit den Region­al­stellen wird eine zusät­zliche Ver­wal­tungsebene geschaf­fen, die unnötig Ressourcen ver­schlingt und die Kom­mu­nika­tion und Ver­wal­tung verkom­pliziert.

  • Das ZSL wird eine Mam­mut­be­hörde mit ein­er Unmenge von Auf­gaben, die alle zen­tral geplant, ges­teuert und lokal erfüllt wer­den sollen. Dieses zen­tralplaner­ische Mod­ell gefährdet bewährte regionale Ange­bote für die Schulen, die bish­er von den Schu­la­bteilun­gen der Regierung­sprä­si­di­en, den Fach­ber­atern für Unter­richt und Schu­len­twick­lung und den Sem­i­naren vor Ort bere­it­gestellt wur­den.

  • Durch die Umor­gan­i­sa­tion wird den Sem­i­naren, Regierung­sprä­si­di­en und nicht zulet­zt dem KM selb­st viel fachkundi­ges und erfahrenes Per­son­al ent­zo­gen, was die Funk­tions­fähigkeit dieser bewährten Insti­tu­tio­nen gefährdet:

  • Die Regierung­sprä­si­di­en sollen die Fach- und Dien­stauf­sicht sich­er­stellen, ver­lieren aber kom­pe­tente Mitar­beit­er;

  • die Sem­i­nare sollen zusät­zlich zur Ref­er­en­da­raus­bil­dung auch noch in der Lehrerfort­bil­dung tätig sein, ver­lieren aber Leitungsper­son­al, das sie für die Organ­i­sa­tion des Betriebs benötigten, und Fach­per­son­al, das sie für die Betreu­ung der Ref­er­en­dare bräucht­en;

  • das KM ver­liert eine ganze Abteilung und bekommt dafür eine magere “Stab­sstelle”, die kaum in der Lage sein wird, ihre auf­sichtliche Funk­tion zu erfüllen.

  • Das beab­sichtigte Konzept der “datengestützten Schu­len­twick­lung” birgt die Gefahr, dass zukün­ftig nicht mehr Schüler und Lehrer — also Men­schen — im Mit­telpunkt der Bil­dungs­be­mühun­gen ste­hen wer­den, son­dern Zahlen und Plan­er­fül­lung.

Der PhV BW hat­te bere­its im Mai 2017 ein Konzept zur inhaltlichen und struk­turellen Weit­er­en­twick­lung bei der Lehrerbil­dung und ‑fort­bil­dung vorgelegt, mit dem bewährte Insti­tu­tio­nen und Struk­turen gezielt gestärkt wor­den wären, siehe:

https://www.phv-bw.de/joomla/aktuelles/1858-lehrerfortbildung-forderungen-des-phv-bw

bzw. direkt als PDF-Doku­ment zum Down­load:

https://www.phv-bw.de/joomla/images/download/2017/Flugblatt-LehrerfortbildungForderungenPhVBW.pdf .

„Lei­der sind diese Vorschläge seit­ens des KM kaum aufge­grif­f­en wor­den“, bedauert der PhV-Vor­sitzende Ralf Scholl.

Von der datengestützten Schu­len­twick­lung erhofft man sich die Steigerung der Schüler­leis­tung, mehr Trans­parenz und Effizienz (d. h. Ressourcensparsamkeit) und wis­senschafts­basierte Ide­olo­giefrei­heit im Bil­dungswe­sen.
Die zu erwartenden schädlichen Neben­wirkun­gen von datengestützter Schu­len­twick­lung kön­nen aber in den USA, wo das Konzept bere­its vor mehr als 20 Jahren schrit­tweise flächen­deck­end einge­führt wurde, beobachtet wer­den: (1)

  • Ökonomisierung und Nüt­zlichkeitswahn statt human­is­tis­ch­er Men­schen­bil­dung: Bil­dung als staatliche Investi­tion in „Humankap­i­tal“, Pseu­do-Wet­tbe­werb von Bil­dung­sein­rich­tun­gen um zen­tral fest­gelegte Planziele, d. h. Kon­for­mitäts­druck statt Vielfalt in der Bil­dungs­land­schaft

  • Veren­gung des Bil­dungs­be­griffs auf den Erfolg bei zen­tralen Tes­tun­gen

  • Veren­gung des Wis­sens­be­griffs auf atom­isierte, inhaltschwache Kom­pe­ten­zen, da i. d. R. nur kleine „Kom­pe­tenz-Items“ bei zen­tralen Tes­tun­gen über­prüft wer­den kön­nen

  • Ver­lagerung der Unter­richt­sak­tiv­itäten in Rich­tung „teach­ing to the test“ und damit Ver­ar­mung des Unter­richts­geschehens

  • Über­las­tung von Lehrkräften und Schulleitun­gen durch immensen Doku­men­ta­tions- und Kon­trol­laufwand

  • Kon­troll­wahn („account­abil­i­ty“, „deliv­erol­o­gy“) statt Ver­trauen in die Bil­dung­sein­rich­tun­gen

  • Ten­denz zur Entwick­lung weitre­ichen­der Überwachungs- und Steuerungssys­teme durch com­put­er­basierte Unter­richts­gänge, Tes­tun­gen, Lern­soft­ware („learn­ing ana­lyt­ics“) und damit:

  • wach­sender Ein­fluss extern­er Akteure wie der Bil­dungs- und Testkonz­erne und der wirtschaft­sna­her Stiftun­gen (OECD / PISA, Ber­tels­mann, Holtzbrinck, Bill-und-Melin­da-Gates-Stiftung)

  • Fehls­teuerung von Bil­dungszie­len durch diese exter­nen Akteure mit Eigen­in­ter­essen ohne demokratis­che Legit­i­ma­tion: Ökonomisierung der Bil­dungsin­halte

  • Ten­denz zur Pri­vatisierung des Bil­dungswe­sens durch Schwächung staatlich­er Ein­rich­tun­gen zugun­sten freier Anbi­eter auf dem „Bil­dungs­markt“

  • Tech­nokratis­che Kon­troll- und Mach­barkeit­sil­lu­sion: Bil­dungser­folge nach herkömm­lichem Bil­dungsver­ständ­nis (Per­sön­lichkeits­bil­dung) oder eine Ver­ringerung der wie auch immer definierten „Bil­dung­sun­gerechtigkeit“ hat die datengestützte Schu­len­twick­lung bish­er nir­gends nach­weis­lich dauer­haft erbracht.

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An den Gym­nasien des Lan­des Baden-Würt­tem­berg wer­den über 300.000 Schü­lerin­nen und Schüler unter­richtet. Der Philolo­gen­ver­band Baden-Würt­tem­berg e.V. (PhV BW) ver­tritt mit rund 9.000 im Ver­band organ­isierten Mit­gliedern die Inter­essen der Lehrerin­nen und Lehrer an den 462 öffentlichen und pri­vat­en Gym­nasien des Lan­des.

Im gym­nasialen Bere­ich ver­fügt der Philolo­gen­ver­band BW sowohl im Haupt­per­son­al­rat beim Kul­tus­min­is­teri­um als auch in allen vier Bezirksper­son­al­räten bei den Regierung­sprä­si­di­en über die Mehrheit, stellt die jew­eili­gen Vor­sitzen­den und set­zt sich dort für die Inter­essen der ca. 30.000 Lehrkräfte an den Gym­nasien des Lan­des ein.

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(1) Siehe die umfan­gre­iche Analyse von Richard Münch: Der bil­dungsin­dus­trielle Kom­plex. Schule und Unter­richt im Wet­tb­werb­sstaat. Beltz Juven­ta, Wein­heim / Basel 2018, 392 Seit­en, ISBN:978–3‑7799–3950‑4

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