PhV zur Pressemitteilung des KM vom 21.6.2018 über die Petition „G9 jetzt“ als Stimmungsbarometer
25. Juni 2018
In seiner Pressemitteilung (PM) vom 21.6.2018 nimmt das Kultusministerium (KM) Stellung zur aktuellen, von Eltern initiierten Petition „G9 jetzt!“. Kultusministerin Dr. Eisenmann lehnt eine Ausweitung von G9-Zügen am allgemein bildenden Gymnasium bzw. eine Rückkehr zum G9 vehement ab.
In der PM des KM heißt es: “Das achtjährige Gymnasium ist und bleibt der klassische und reguläre Weg zum allgemein bildenden Abitur im Land. Darauf haben wir uns in der Landesregierung verständigt“, sagt Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann. „Auch mit den beiden Regierungsfraktionen gibt es den klaren Konsens, nicht mehr über Schulstrukturen und parallele Angebote zum Abitur zu diskutieren. Diese immer wieder aufgewärmten Debatten erzeugen Unruhe und haben keinen qualitativen Mehrwert“, so die Kultusministerin.”
Dies ist eine Verkennung von Tatsachen und daher eine unhaltbare Behauptung. Der “klassische” Weg zum allgemein bildenden Abitur war in Baden-Württemberg fast 200 Jahre lang G9 und nicht G8. Dies gilt für ganz Deutschland. G8-Bildungsgänge wurden im sogenannten Dritten Reich eingeführt. Nach dem 2. Weltkrieg sind die westlichen Bundesländer zu G9 zurückgekehrt, die östlichen bei G8 geblieben. Historisch gesehen ist G8 also die Ausnahme, nicht die Regel. Der qualitative Mehrwert von G9 liegt in mehr Zeit und Muße für vertiefte und breitere schulische Bildung und Persönlichkeitsentwicklung, was unsere jungen Menschen in einer immer komplexer und schwieriger werdenden Welt stärker und selbstbewusster macht. Dies hat man inzwischen in vier bevölkerungsreichen westlichen Bundesländern erkannt (Bayern, NRW, Niedersachen und Hessen), so dass ein bundesweiter Trend zur Rückkehr zu G9 bzw. zu einer Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 beobachtet werden kann. Baden-Württemberg wird dieses Problem nicht auf Dauer aussitzen können. In diesen vier Bundesländern wohnen über 50 Prozent der Kinder in Deutschland. Das heißt, dass über die Hälfte unserer Kinder in Deutschland Zugang zu einem G9-Bildungsgang hat. Wenn Frau Dr. Eisenmann sagt, man habe sich in der Koalition verständigt, nicht über „parallele Angebote zum Abitur zu diskutieren“, so stellt sich die Frage, warum dies bei der völlig unsinnigen Etablierung von Oberstufen an Gemeinschaftsschulen dann anders ist. Diese Logik erschließt sich uns nicht.
Auch wollen wir die Kultusministerin daran erinnern, dass Punkt 6 des 20-Punkte-Regierungsprogramms des CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf im Landtagswahlkampf mit „Wir werden G8 und G9 nebeneinander ermöglichen“ überschrieben war. Darin hieß es: „……wissen wir, dass sich viele Eltern, Lehrer und Schüler ein neunjähriges Gymnasium wünschen. Dem wollen wir dadurch Rechnung tragen, indem wir die Entscheidung zwischen G8 und G9 in die Hand der Schulen und damit der Eltern, Lehrer und Schüler legen.“ Frau Kultusministerin sollte also bei der Verve ihrer Argumentation auch die Glaubwürdigkeit ihrer Partei zumindest ein Stück weit im Blick behalten.
In der PM des KM heißt es des Weiteren:
“Berufliche Gymnasien bieten exzellenten Weg zum Abitur in neun Jahren
Seit mehr als 50 Jahren gebe es in Baden-Württemberg mit den beruflichen Gymnasien einen Weg zum Abitur in neun Schuljahren, den mehr als 36 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten gehen. Damit gebe es ein flächendeckendes G9-Angebot, das dem Wunsch vieler Eltern nach einer längeren Lernzeit für ihre Kinder umfassend Rechnung trage. „Unsere beruflichen Gymnasien im Land leisten exzellente Arbeit und bereiten mit vielfältigen fachlichen Richtungen in besonderer Weise auf ein Studium und die Arbeitswelt vor. Ich sehe überhaupt keinen Grund, weshalb wir die beruflichen Gymnasien durch eine Rückkehr zu G9 unter Druck bringen sollten“, so Eisenmann.”
Hier spielt das Kultusministerium in unzulässiger Weise berufliche und allgemein bildende Gymnasien gegeneinander aus, denn das berufliche Gymnasium erfreut sich seit Jahrzehnten wachsender Beliebtheit.
Von einer Bedrohung – auch noch zu Zeiten des G9 am allgemein bildenden Gymnasium – konnte nie eine Rede sein. Außerdem: Wenn ein Gymnasium G9 braucht, dann doch wohl das allgemein bildende Gymnasium mit seinem im Vergleich zum beruflichen Gymnasium viel breiteren Bildungsanspruch („allgemein bildend“). Die Bildungsgänge sind außerdem nicht identisch, weshalb es eine Frage der Gerechtigkeit ist, auch den Schülerinnen und Schülern, die aus guten Gründen den Bildungsgang am allgemein bildenden Gymnasium wählen, flächendeckend G9-Züge anzubieten. ´Unter Druck bringen´ derzeit höchstens die beruflichen Gymnasien die allgemein bildenden, denn an vielen Standorten wandern viele Schülerinnen und Schüler des allgemein bildenden an das berufliche Gymnasium ab und zwar u.a. deshalb, weil sie dort ein neuntes Schuljahr geboten bekommen, was ihnen die Kultusministerin am allgemein bildenden Gymnasium versagt.
„So herum wird also ein Schuh draus“, kommentiert Bernd Saur, der Vorsitzende des PhV BW und fragt: “Mit welchem Recht wird der Steuerzahler gezwungen, den Abiturienten am beruflichen Gymnasium und an den geplanten Oberstufen an Gemeinschaftsschulen ein neuntes Schuljahr zu finanzieren und dies den Abiturienten am allgemein bildenden zu verwehren?“
Das KM schreibt außerdem:
“G8 in der Fläche etabliert – 25.000 Unterschriften kein Stimmungsbarometer
Das achtjährige Gymnasium G8 wurde vor 14 Jahren eingeführt und ist internationaler Standard. „G8 ist in der Fläche etabliert. Die Mehrheit der Eltern ist damit zufrieden und viele Schülerinnen und Schüler haben G8 seither problemlos bewältigt und gehen souverän ihren Weg“, sagt die Ministerin. Dass die Übergangsquote aufs Gymnasium seit der Einführung des achtjährigen Bildungsgangs kontinuierlich gestiegen ist, sei sicherlich auch ein Indiz für die starke Nachfrage nach G8. „Angesichts der rund 300.000 Gymnasiasten im Land sind knapp 25.000 Unterschriften bei weitem kein Stimmungsbarometer pro G9“, so Eisenmann. Gemessen an der Anzahl der Eltern mit Gymnasialkind sowie der Grundschuleltern, die sich für ein Gymnasium entscheiden, müsste die Petition eigentlich aus dem Stand heraus eine halbe Million Unterstützer finden. Dass dies nicht so sei, zeige, die Mehrheit der Eltern habe sich mit dem G8 nicht nur arrangiert, sondern akzeptiere es als etablierten Weg zum Abitur.”
Das Kultusministerium vergleicht hier Äpfel mit Birnen. Von einem internationalen G8-Standard beim Gymnasium kann nur vordergründig die Rede sein, weil das, was klassischer Weise gymnasiale Bildung in unserer Oberstufe ausmacht, in anderen Ländern in aller Regel im Grundstudium an den Universitäten vermittelt wird. In Frankreich muss vor Studienbeginn erst einmal ein Einführungskurs, ein sogenannter „cours préparatoire“ belegt werden, um die Studierfähigkeit zu erlangen. Baden-württembergische Abiturienten, die zusammen mit Abiturienten europäischer Nachbarländer an einer internationalen Universität studieren, stellen fest, dass sie besser auf ein Studium vorbereitet sind. Die Frage, was denn ein Abitur qualitativ beinhaltet, wurde schon damals, als Kultusministerin Schavan das G8 verbissen und mit aller Macht durchdrückte, völlig außer Acht gelassen. Frau Schavan hatte sich nur für die Zahl der Schuljahre interessiert. Was das “Stimmungsbarometer” betrifft, so sind 25.000 Stimmen durchaus relevant, denn Online-Petitionen offenbaren naturgemäß nur die Spitze des Eisbergs, da ja nicht alle betroffenen Eltern und Schüler systematisch befragt werden. Wenn dies geschieht, z. B. an den viel zu wenigen Standorten, an denen G8- und G9-Züge an allgemein bildenden Gymnasien angeboten werden, dann entscheiden sich Eltern und Schüler regelmäßig zu 80–90 Prozent für G9. Das dürfte ein eindeutiges Stimmungsbarometer sein! Im Übrigen zeigt der Vergleich zwischen der PhV-Petition von 2016 (14.600 Unterstützer) und der aktuellen Eltern-Petition (über 26.000 Unterstützer) einen klaren Trend, vor dem das KM nicht die Augen verschließen sollte.
Außerdem führt das KM die Bildungsforschung an:
“Bildungsforschung: Rückkehr zu G9 keine positiven Effekte
„Darüber hinaus gibt es keinen Beweis für die These, dass G8 Schülerinnen und Schüler benachteiligt. Im Gegenteil: Die empirische Forschung belegt, dass es so gut wie keine Unterschiede zwischen G8 und G9 gibt“, sagt Kultusministerin Eisenmann. Erst im vergangenen Jahr habe eine Untersuchung der Stiftung Mercator einige Mythen im Zusammenhang mit G8 widerlegt. Weder seien die G8-Schüler schlechter auf die Anforderungen eines Studiums vorbereitet, noch ließen sich Unterschiede in ihren fachlichen Leistungen nachweisen. Auch seien sie im Vergleich mit ihren G9-Mitschülern nicht gestresster. Prof. Dr. Ulrich Trautwein, Universität Tübingen, hat in seiner Studie „Konsequenzen der G8-Reform“ aus dem Jahr 2015 ebenfalls keine Unterschiede in den Leistungen zwischen G8- und G9-Absolventen festgestellt.”
Hier wird die Bildungsforschung vom KM in unzulässiger Weise verkürzt dargestellt. Prof. Trautwein kommt keineswegs zu einheitlichen Ergebnissen. Es ist richtig, dass die Studie keine Unterschiede bei den Physikleistungen feststellt. Die Trautwein-Studie zeitigt aber auch folgende Ergebnisse:
• G9-Schüler verfügen im Vergleich zu G8-Schülern über eine signifikant bessere Leseleistung in Englisch
• G9-Schüler zeigen bessere Leistungen in Biologie
• G8-Schüler führen als Problem durchaus auch weniger Freizeit an
• Bei G8-Schülern zeigt sich ein stärkeres schulisches Belastungserleben und ein geringeres gesundheitliches Wohlbefinden
Außerdem werden neuere Studien unzulässigerweise ignoriert. So kommt die Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim 2018 zu dem Ergebnis, dass G8 die Chancengleichheit verringert. Siehe hierzu: https://www.zew.de/de/presse/pressearchiv/hoehere-lernintensitaet-verringert-chancengerechtigkeit/
Es ist inzwischen völlig offensichtlich, dass ein Zwangs-G8 die Jungs benachteiligt, weil bei ihnen der Faktor Zeit eine größere Rolle spielt als für die Mädchen. So sind ja inzwischen die Jungs unsere Sorgenkinder. Das kann ein Kultusministerium nicht einfach ignorieren.
Schließlich führt das KM das Kostenargument an:
“Hohe Qualität der Gymnasien weiter stärken
„Eine Rückkehr zu G9 würde den Steuerzahler jährlich knapp 50 Millionen Euro zusätzlich kosten. Für eine Reform, die nichts bringt, ist das ziemlich viel Geld“, so die Ministerin. Sinnvoller sei es, die hohe Qualität der Gymnasien zu sichern und weiter zu stärken, beispielsweise mit Vertiefungsstunden für die Pflichtabiturfächer Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen oder mit der Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe. Diese ermögliche den Schülerinnen und Schülern, ab dem Schuljahr 2019/20 neue individuelle Schwerpunkte je nach Begabung und Interessen zu setzen.”
Wenn G9 tatsächlich die genannten Mehrkosten verursachen sollte, dann hat sich unser Land diese fast 200 Jahre lang gut leisten können und dann muss dies angesichts des Mehrwerts für Bildung und Persönlichkeitsentwicklung auch weiterhin möglich sein, so wie es für die beruflichen Gymnasien und die geplanten Oberstufen an Gemeinschaftsschulen offensichtlich ganz selbstverständlich möglich ist. Wenn die anzusetzenden Negativfolgen von G8 gegengerechnet würden (Absenkung des Bildungsniveaus, Beeinträchtigung von Persönlichkeitsbildung und musisch-kultureller Bildung, Negativfolgen für das ehrenamtliche Engagement in Vereinen, Parteien und Kirchen, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Beeinträchtigung der Studierfähigkeit und dadurch potenziell häufigerer Studienabbruch oder Studienfachwechsel usw.), dann würde man sehen, dass sich die Investition in G9 gesamt-volkswirtschaftlich gesehen sehr wohl rechnet.
In der Aktuellen Debatte des Landtags am 6. Juni 2018 wies eine CDU-Abgeordnete (!) auf folgendes hin:
„Wir hatten durch die Kombination aus G9, Wehrpflicht und altem Studiensystem die ältesten Schulabgänger und Uniabsolventen der OECD-Staaten. Konfrontiert mit dieser Konkurrenz kam der Ruf nach G8 auch aus der Elternschaft.“
Durch die Aussetzung der Wehrpflicht und die Umstellung der Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses hat sich diese Situation aber zwischenzeitlich entscheidend geändert. Wir stellen also fest, dass man jetzt zum G9 zurückkehren könnte, und die Studienabgänger wären trotzdem im Regelfall noch wesentlicher jünger als früher. Wir stellen des Weiteren fest, dass man aufgrund des G8 jetzt an den Hochschulen das Problem hat, dass Studienanfänger teilweise noch relativ unreif und oft noch gar nicht volljährig sind (was zum Beispiel dazu führt, dass sie ohne ihre Eltern keine Mietverträge für ihre Studentenwohnung unterschreiben dürfen). Und man kann durchaus die Frage stellen, ob ein zusätzliches Schuljahr nicht — gerade auch im Hinblick auf die Studierfähigkeit — nützlicher wäre als das, was viele Abiturienten derzeit in dem Jahr nach ihrem Abitur machen.
Durch die PM vom 21.6.2018 hat das Kultusministerium ein weiteres Mal bekräftigt, dass man ohne Wenn und Aber am Zwangs-G8 festzuhalten gedenkt. Es bleibt abzuwarten, wie lange man dies angesichts des bundesweiten Trends wird durchhalten können. Die baden-württembergischen Landeskinder werden jedenfalls doppelt benachteiligt: während in manch nördlichem Bundesland die Abiturschnitte und damit die Chancen auf einen begehrten Studienplatz steigen und die Kultusministerkonferenz es seit Jahrzehnten nicht schafft, eine Vergleichbarkeit des Abiturs in Deutschland herzustellen, bekommen die Schülerinnen und Schüler in diesen Bundesländern jetzt auch noch ein Lernjahr mehr zugestanden.
Bernd Saur dazu abschließend: “Über den Länderfinanzausgleich finanzieren die baden-württembergischen Eltern und Steuerzahler die Privilegierung der Abiturienten anderer Bundesländer und die Diskriminierung ihrer eigenen Kinder. Und derweil reden unsere verantwortlichen Politiker von Chancengerechtigkeit. Ich bin wirklich gespannt, wie lange sie dies durchhalten werden.“