Nach 200-jähriger Geschichte soll das Gymnasium keinen eigenen Bildungsplan mehr bekommen
18. Oktober 2012
18.10.2012 / 1811 – 18-12
Zumeldung des Philologenverbandes Baden-Württemberg (PhV BW) zur Pressemitteilung Nr. 128/2012 des Kultusministeriums
PhV BW gegen die grün-rote Bildungsplanreform
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Erosion gymnasialer Bildung durch die Hintertür
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Nach 200-jähriger Geschichte soll das Gymnasium keinen eigenen Bildungsplan mehr bekommen
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Grün-rote Gleichschaltungs- und Einebnungspolitik gefährdet die Bildungschancen und die Studierfähigkeit unserer künftigen Studentinnen und Studenten
Der Philologenverband Baden-Württemberg (PhV BW) protestiert gegen die Pläne des Kultusministeriums, einen schulartunabhängigen Einheitsbildungsplan erarbeiten zu lassen, bei dem die einzelnen Schularten nur mehr durch Niveaukonkretisierungen abgebildet werden. Das Kultusministerium möchte erreichen, „dass das individuelle Lernen in allen Schularten umgesetzt wird.“ Die hierdurch zum Ausdruck kommende Unterstellung, dass die Lern- und Lehrmethoden an den traditionellen Schularten defizitär seien und die einzelne Schülerin bzw. der einzelne Schüler nicht im Mittelpunkt aller Bemühungen stünde, weisen wir als völlige Verkennung der Realitäten vor Ort zurück. Gymnasiallehrkräfte sind Meister ihres Faches und Meister der Vermittlung, denn sie verfügen über ein beeindruckendes Repertoire verschiedenster Methoden. Die ungebrochene Popularität des Gymnasiums (steigende Übergangszahlen, anhaltende Forderung nach mehr G9-Zügen) lässt bei den Eltern auf eine Wahrnehmung schließen, die derjenigen der Führungsmannschaft im Kultusministerium diametral entgegensteht.
Es ist mit Gewissheit so, dass das individuelle Lernen à la Gemeinschaftsschule, d.h. im Wesentlichen die Zuordnung passender Arbeitsblätter für den dann allein lernenden Schüler, bei weitem nicht die Bandbreite der methodischen Möglichkeiten abdeckt, die am Gymnasium praktiziert werden und im Sinne eines optimalen individuellen Lernens auch praktiziert werden müssen.
Auch können wir nicht erkennen, warum die immer wieder als innovativ beschworene GMS-Lernkultur die „soziale Gerechtigkeit im Bildungssystem erhöhen“ soll. Die einschlägigen Kennzahlen (Wiederholerquote, Quote der Schulabgänger ohne Abschluss, Quote der Hochschulzugangsberechtigten im Bundes- und im internationalen Vergleich) gerade in unserem Flächenland mit dem höchsten Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund zeigen, dass ganz gewiss kein Einheitsbildungsplan vonnöten ist, um die soziale Gerechtigkeit zu erhöhen! Die Antwort auf die ausgeprägte Pluralität unserer Gesellschaft, die Verschiedenartigkeit unserer Kinder und die Vielfalt der Herausforderungen in einer sich globalisierenden Welt kann nicht die Einebnung und Gleichschaltung verschiedener Bildungspläne und -gänge sein.
Wenn dem Kultusministerium so sehr an der sozialen Gerechtigkeit gelegen ist, so sollten sich die Verantwortlichen fragen, warum ihre erste maßgebende Entscheidung nach Übernahme der Regierungsgeschäfte ausgerechnet in einer Maßnahme bestand, die nachweislich den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg noch verstärkt, nämlich der Wegfall der Verbindlichkeit bei der Grundschulempfehlung.
Wenn es erklärtes Ziel der Reform ist, die Abstimmungen zwischen den Schularten zu verbessern, so könnte die Kultusministerin die von ihr verfügte Heimlichtuerei zum Schaden der Kinder sofort beenden. Dadurch, dass den weiterführenden Schulen aufgrund einer seltsamen Stigmatisierungsunterstellung die Grundschulempfehlung vorenthalten wird, werden bewusst frühzeitig einsetzende Fördermaßnahmen verhindert.
Ein weiteres erklärtes Ziel der Landesregierung besteht darin, „Bildungsgänge, die zum Studium berechtigen“ künftig stärker darauf auszurichten, „die Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen der Hochschulen vorzubereiten“. Genau deshalb braucht das Gymnasium aber einen eigenen Bildungsplan, denn dies ist ab Klasse 5 im Rahmen eines klar definierten, begabungsgerechten und abschlussorientierten Bildungsganges seine originäre Aufgabe. Für die Gemeinschaftsschule wurde hingegen eine „durchgängige berufliche Orientierung“ gesetzlich verankert. Ganz abgesehen davon, dass angesichts dieser klaren Profilierung in einer Gemeinschaftsschule keine gymnasiale Bildung und damit das Rüstzeug für ein Hochschulstudium vermittelt werden kann (die für die ersten drei Lernjahre vorliegende Stundentafel zeigt dies auch), bildet ein Einheitsbildungsplan für die beiden genannten Schularten einen klar zu Tage tretenden Widerspruch. Er ist dem übereifrigen Bemühen der Verantwortlichen geschuldet, Differenzierung durch Gleichmacherei zu ersetzen, die vermittels des Siegels „soziale Gerechtigkeit“ mit positiver Konnotation kundenfreundlich daherkommt, in Wirklichkeit aber das Gegenteil ist.
Die Vermittlung von Werten wie Gerechtigkeit, Fairness und Toleranz, Umweltbildung und die politische Bildung sollen erklärtermaßen stärker betont werden. Wir fragen uns, an welchen Stellen der bisherigen Bildungspläne diesen Werten keine oder eine zu geringe Bedeutung eingeräumt wurde. Wir empfehlen in diesem Zusammenhang die Lektüre der Leitbilder unserer Schulen, die vor etwa 10 Jahren entwickelt wurden und von deren Existenz man vielleicht nicht überall weiß.
Die Mittlere Reife ist am G8 inhaltlich nach Klasse 9, in den anderen Schularten der Sekundarstufe I am Ende der Klasse 10 erreicht. Wie es möglich sein soll – und wenn ja, zu welchem Preis – eine inhaltliche Gleichschaltung dieser Schularten durch einen Einheitsbildungsplan zu erlangen, konnte noch nicht auch nur ansatzweise erläutert werden. „Sind die Alleinstellungsmerkmale des Gymnasiums den grün-roten Bildungspolitikern ein elitärer Dorn im Auge?“, fragt Bernd Saur, der Vorsitzende des PhV BW.
Bezüglich des avisierten Zeitplans fordert der PhV BW eine mindestens einjährige Phase der Lehrerfortbildung, damit nicht wieder (wie schon 2003/4) ein grundlegend reformierter Bildungsplan ohne Lehrerfortbildung in Kraft tritt und damit in der Anfangsphase zum Scheitern verurteilt ist. Welche Validität einer einjährigen Erprobung an beispielsweise nur zwei Gymnasien des Landes zukommen soll, bleibt dahin gestellt. Erprobung, Evaluierung derselben, Korrekturen und die Phase der Lehrerfortbildung müssen gründlich erfolgen, sodass der vorgeschlagene Zeitplan von vornherein unrealistisch erscheint. Der Philologenverband BW geht daher davon aus, dass ein sorgfältig ausgearbeiteter neuer Bildungsplan nicht vor dem Schuljahr 2016/17 in Kraft treten kann.
Um zum Wohle unserer Kinder und ihrer Zukunftsperspektiven so viel Gymnasium wie nur möglich zu erhalten, nimmt der PhV BW die Einladung zur Mitarbeit im Beirat zur Lenkungsgruppe an.“ Dessen ungeachtet fordern wir mit Nachdruck die Erarbeitung eines schulartspezifischen Bildungsplans für unsere Gymnasien!“, so Bernd Saur abschließend.
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An den Gymnasien des Landes Baden-Württemberg werden über 300.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Der Philologenverband Baden-Württemberg e.V. (PhV BW) vertritt rund 8.000 im Verband organisierte Lehrerinnen und Lehrer an den 446 öffentlichen und privaten Gymnasien des Landes.
Im gymnasialen Bereich hat der Philologenverband BW sowohl im Hauptpersonalrat beim Kultusministerium als auch in allen vier Bezirkspersonalräten bei den Regierungspräsidien die Mehrheit und setzt sich dort für die Interessen der rund 27.000 Lehrkräfte an den Gymnasien des Landes ein.
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Bild des PhV BW-Vorsitzenden Bernd Saur