Pressemitteilung des Philologenverbands und der Jungen Philologen (JuPhi) Baden-Württemberg zum Thema Schulöffnung
4. Mai 2020
• Verband der Gymnasiallehrkräfte in Sorge bezüglich der Einhaltung der Hygieneverordnung
• PhV-Vorsitzender Ralf Scholl: „Es wird eine doppelte Belastung auf die Kolleginnen und Kollegen zukommen.“
• JuPhi-Vorsitzende Martina Scherer: „Welche Zeit bleibt dann eigentlich zum Unterrichten übrig?“
• Viele Gymnasien sind bereits mit den Abschlussjahrgängen an der Kapazitätsgrenze angekommen.
Stuttgart, 04. Mai 2020
Az. 1911 / 2020–18
Der Philologenverband Baden-Württemberg (PhV BW) hat große Sorge, dass die Hygienemaßnahmen in der Praxis immer eingehalten werden können. „Sehr viele Gymnasien haben sich die größte Mühe gegeben, ab Montag mit dem eingeschränkten Personal, das ihnen aufgrund der Risikogruppen zur Verfügung steht, der Hygieneverordnung gerecht zu werden“, so Ralf Scholl, der Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg. Mit sehr großem Einfallsreichtum — und an jede Schule angepasste Lösungen — haben die Schulleitungsteams, die Krisenteams, die Personalvertretungen vor Ort und viele weitere Kolleginnen und Kollegen unter Berücksichtigung der Hygienevorschriften Konzepte für den Schulbeginn der Kursstufen am 4. Mai ausgearbeitet. Sie haben in den Augen des PhV großartige Arbeit geleistet, aber wird das ausreichen?
Hier einige Beispiele:
• Da in den meisten Gängen kein Sicherheitsabstand gewährleistet werden kann, mussten teilweise Einbahnstraßen –Systeme entwickelt werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen bereits von Frühaufsichten an den Bushaltestellen und Parkplätzen abgeholt und eingewiesen werden, damit Kontakte aufgrund Missachtung der Abstandsregeln vermieden werden.
• Zu Beginn der Stunden sollen Hände gewaschen werden, zumindest an den Schulen, die noch Waschbecken in den Klassenzimmern haben. Ebenso nach dem Raumwechsel und vor und nach dem Essen.
• Es werden, sofern möglich, an den Eingängen Desinfektionsspender aufgestellt.
• Die Schülerinnen und Schüler sollen, wenn sie nicht am Platz sitzen, ihren Mund- Nasen-Schutz tragen, wie im ÖPNV und beim Einkaufen.
• In den Toiletten, von denen es meist zu wenige gibt, herrscht deshalb ein großer Andrang. Man muss aber auch hier den Sicherheitsabstand einhalten können. Für viele Schulen heißt das: maximal ein bis zwei Schüler gleichzeitig im Toilettenraum. Hier werden z.T. individuelle „Toilettenkarten“ an die Schülerinnen und Schüler ausgegeben und vor der Toilettentür deponiert, damit man sehen kann, wie viele Personen bereits im Raum sind.
• In den Unterrichtsräumen gibt es sehr strenge Sitzordnungen, damit das Wechseln der Tische auf ein Minimum reduziert werden kann.
• Auch der Wechsel der Räume soll von den Lehrkräften, die auf dem gleichen Stockwerk unterrichten, individuell abgesprochen werden, um das Gedränge auf den Fluren zu minimieren — sofern dieser Wechsel nicht durch neue Stunden- und Raumpläne ganz vermieden werden kann.
• Die großen Oberstufenkurse wurden geteilt und auf zwei Zimmer nebeneinander verteilt. Die Lehrkräfte betreuen diese halben Kurse gleichzeitig, wodurch ein normales Unterrichten sehr schwierig wird. Ebenso sind alle Unterrichtsmethoden mit engerer Schülerzusammenarbeit, wie Gruppen oder Partnerarbeit, Kugellager oder Schülerversuche) aufgrund des Abstandsgebots derzeit untersagt.
• Kopien sollen möglichst vermieden werden, und der Austausch von Materialien mit den Sitznachbarn ist untersagt.
„Wie viel Zeit wird dann eigentlich noch für den eigentlichen Unterricht übrig bleiben bei Einhaltung der Hygienestandards, parallel stattfindenden Kursen, Schülerlenkung ab der Bushaltestelle, einer geforderten Präsenz der Lehrerinnen und Lehrer in und vor den Räumen vor und nach dem Unterricht?“ fragt Martina Scherer , die Landesvorsitzende der Jungen Philologen Baden-Württemberg.
„Die Kolleginnen und Kollegen werden angehalten, die Unterrichtsinhalte am besten vor der Präsenzzeit an der Schule digital an die Schülerinnen und Schüler zu geben, damit eine Lehrkraft überhaupt die auf zwei Räume verteilten Schüler betreuen kann“, so Ralf Scholl weiter. „Ich sehe da eine hohe Belastung auf die Kolleginnen und Kollegen zukommen.“ In der Schule bleibe so nur relativ wenig Zeit für Fragen oder das Einführen von neuen Inhalten. Viel Arbeit müsse weiterhin zu Hause geleistet werden, von Lehrerinnen und Lehrern, wie auch von Schülerinnen und Schülern. Und die Klassen 5 — 10, die ohnehin noch zu Hause bleiben, müssen parallel von den gleichen Lehrkräften aus dem Home-Office betreut werden. Es wird nicht möglich sein, unter diesen Vorgaben die Anzahl der Schüler im Präsenzunterricht wesentlich über die zwei Abschluss-Jahrgänge hinaus zu erhöhen. „Für die Klassen 5–10 ist momentan an den Gymnasien schlicht kein Platz vorhanden, und während der Zeit des Abiturs schon gar nicht“ erklärt der PhV-Vorsitzende Ralf Scholl.
Für eine Rückkehr zu einem geregelten Schulbetrieb für alle Schüler ab Mitte Juni (nach den Pfingstferien) gibt es nur einen einzigen sicheren, zielführenden Weg: Die Abstandsgebote müssen in den kommenden sechs Wochen deutschlandweit konsequent weiter eingehalten werden, was aufgrund der gelockerten Einschränkungen nicht einfach werden wird. Gelingt es nicht, bis Mitte Juni die täglichen Neuinfektionen deutschlandweit auf weniger als 20–50 zu senken, wird eine Aufnahme des Schulunterrichts mit allen Schülern in diesem Schuljahr ein Wunschtraum bleiben.
In der Schweiz werden ab 11.5. die Kindergärten und Schulen für die Unter- und Mittelstufe wieder geöffnet, in den Kantonen Zürich und Basel im Schichtbetrieb mit Gruppengrößen bis 15, in anderen Kantonen komplett. Dieser Schweizer „Großversuch“ wird unter der Annahme begonnen, dass Kinder sich deutlich weniger anstecken. Eine Annahme, die nach den jüngsten Forschungsergebnissen aber eher nicht zuzutreffen scheint. Spätestens Ende Mai werden wir wissen, ob in der Schweiz die Kindergärten und Schulen zu Ansteckungsherden wurden oder nicht. — Geht dieses Experiment gut, könnten dann auch in Baden-Württemberg die Schulen und Kindergärten spätestens nach den Pfingstferien wieder komplett geöffnet werden, unabhängig von der Zahl der Neuinfektionen zu diesem Zeitpunkt.
Dass blindes Vertrauen auf bloße Hoffnungen und Wunschträume aber zu extrem vielen Toten führt, kann man gar nicht genug betonen. Beobachten lässt sich das am schlechten Beispiel der USA mit einem Drittel aller weltweiten Toten, wo wirtschaftliche Interessen gepaart mit Dummheit jetzt durch viel zu frühe und zu weitgehende Lockerungen eine zweite Infektionswelle auslösen. Es gilt jetzt, trotz der zunehmenden ökonomischen Probleme noch weitere vier bis sechs Wochen konsequent die Kontaktverbote durchzuhalten, abrechnen (auch ökonomisch!) kann man erst dann, wenn die Seuche unter Kontrolle ist.
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An den Gymnasien des Landes Baden-Württemberg werden rund 300.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Der Philologenverband Baden-Württemberg e.V. (PhV BW) vertritt mit über 9.000 im Verband organisierten Mitgliedern die Interessen der Lehrerinnen und Lehrer an den 462 öffentlichen und privaten Gymnasien des Landes.
Im gymnasialen Bereich hat der Philologenverband BW sowohl im Hauptpersonalrat beim Kultusministerium als auch in allen vier Bezirkspersonalräten bei den Regierungspräsidien die Mehrheit und setzt sich dort für die Interessen der ca. 26.000 Lehrkräfte an den Gymnasien des Landes ein.